Honig
meinen Brief an Dich aus der Tasche [443] und zerriss ihn und ließ die Schnipsel ins Dunkel der Schlucht regnen. Dann verließ ich eilig die Brücke, winkte ein Taxi heran und verbrachte den Silvesterabend und den halben nächsten Tag in meinem Hotelzimmer; ich schrieb ein weiteres Schulheft voll, diesmal in Deiner Stimme. Am Abend checkte ich aus und fuhr zu meinen besorgten Eltern zurück.
Erinnerst Du Dich an unsere erste Begegnung nach Weihnachten? Es muss der 3. oder 4. Januar gewesen sein, wieder einer unserer Freitagabende. Ich habe Dich vom Zug abgeholt. Vielleicht fiel es Dir auf, vielleicht ging Dir durch den Kopf, dass das ungewöhnlich war. Als miserabler Schauspieler machte ich mir Sorgen, ich könnte mich in Deiner Gesellschaft nicht mehr natürlich benehmen und Du würdest mich durchschauen. Und merken, dass ich Bescheid wusste. Da war es einfacher, Dich auf einem überfüllten Bahnsteig zu begrüßen als in der stillen Wohnung. Doch als Dein Zug einfuhr und ich den Waggon mit Dir darin vorbeigleiten sah, als ich Dich so entzückend über Dich greifen und Dein Gepäck herunternehmen sah, und als wir uns Sekunden später in die Arme fielen, begehrte ich Dich so sehr, dass ich nichts mehr vorzutäuschen brauchte. Wir küssten uns, und da wusste ich, es würde ganz einfach werden. Ich konnte beides gleichzeitig, Dich begehren und Dich beobachten. Das eine schloss das andere nicht aus. Tatsächlich nährte eins das andere. Als wir uns eine Stunde später liebten, warst Du auf so bezaubernde und erfinderische Art besitzergreifend und behieltest doch gleichzeitig Deine Maske auf – kurz und gut: Das hat mich so erregt, ich bin fast ohnmächtig geworden. So fing er an, mein – wie [444] Du so nett sagtest – Gesengte-Sau-Modus. Und es steigerte meine Lust um ein Vielfaches zu wissen, dass ich mich gleich an die Schreibmaschine zurückziehen und den Moment aus Deinem Blickwinkel schildern würde. Aus Deinem heuchlerischen doppelten Blickwinkel, der Deine Interpretation, Deine Lesart meiner Person – Geliebter und Honig-Zielobjekt – einschließen musste. Meine Aufgabe bestand darin, mich durch das Prisma Deines Bewusstseins neu zu erfinden. Wenn ich mir wohlwollende Kritiken genehmigte, dann nur wegen der netten Dinge, die Du über mich gesagt hattest. Dank dieser rekursiven Raffinesse war meine Mission sogar noch interessanter als Deine. Deine Dienstherren verlangten von Dir nicht, herauszufinden, welches Bild ich mir von Dir machte. Ich lernte zu tun, was Du tust, und fügte nur einen weiteren Schleier der Irreführung hinzu. Und es gelang mir gut.
Dann, ein paar Stunden später, am Strand von Brighton – genau genommen in Hove (was trotz des Reims auf »love« nicht so romantisch klingt). Erst zum zweiten Mal in unserer Affäre lag ich auf dem Rücken, jetzt mit kühlen feuchten Kieseln unterm Steiß. Ein Polizist, der zufällig auf der Promenade vorbeigekommen wäre, hätte uns sicher wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angezeigt. Wie hätten wir ihm die Parallelwelten erklären sollen, die wir um uns gesponnen hatten? Auf der einen Umlaufbahn unsere gegenseitige Täuschung, für mich etwas Neues, für Dich Routine, potentiell suchterzeugend, wahrscheinlich tödlich. Auf der anderen unsere Zuneigung, die auf dem Höhepunkt der Lust in Liebe umschlägt. Endlich hatten wir den glorreichen Gipfel erklommen und tauschten unsere [445] »Ich-liebe-dichs« aus, jeder unter Wahrung seines Geheimnisses. Ich sah, wie es möglich wäre, Seite an Seite mit diesen verschlossenen Schubladen zu leben, ohne den muffigen Gestank der einen in die duftige andere Schublade eindringen zu lassen. Wenn ich noch einmal erwähne, wie phantastisch unser Sex nach meinem Treffen mit Greatorex wurde, wirst Du bestimmt an Racheakte denken. (Wie ich diesen albernen Titel jetzt bereue.) Der törichte Ehemann begehrt seine Frau, die ihn bestohlen hat, wobei seine Lust durch das heimliche Wissen um ihr Doppelspiel noch gesteigert wird. Also gut, ich habe mit dieser Frau für Dich geprobt, bevor ich überhaupt von Deiner Existenz wusste. Und ich leugne auch nicht, das gemeinsame Bindeglied bin ich. Aber ich denke ebenso an meine andere Erzählung, die über den Bruder des Vikars und seine Liebe zu der Frau, die ihn letztlich vernichten wird. Diese Geschichte hat Dir immer gefallen. Oder was ist mit der Schriftstellerin, die vom Gespenst ihres äffischen Geliebten zu ihrem zweiten Roman getrieben wird? Oder mit dem Narren, der
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