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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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seine Geliebte für real hält, dabei erträumt er sie sich in Wirklichkeit bloß, sie ist nur eine Fälschung, eine Kopie, eine Attrappe?
    Geh nicht aus der Küche! Bleib bei mir! Lass mich diese Verbitterung mir von der Seele schreiben. Reden wir von Recherchen. Als Du an diesem Freitag nach Brighton gekommen bist, hatte ich bereits ein zweites Gespräch mit Max Greatorex hinter mir, diesmal bei ihm zu Hause in Egham, Surrey. Zu meiner Überraschung informierte er mich ausführlich über die Honig-Zusammenkünfte, eure diversen Treffen im Park und in seinem Büro, seinen [446] nächtlichen Besuch in der St. Augustine’s Road und allgemein über Eure Dienststelle. Angesichts seiner verblüffenden Offenheit fragte ich mich, ob er auf eine selbstzerstörerische Art darauf aus sei, der Vierte Mann zu werden, oder ob er in sexueller Konkurrenz mit Deinem Tony Canning zu stehen glaube. Max versicherte mir, die Operation Honig sei auf so niedriger Stufe angesiedelt, dass es nicht drauf ankomme. Ich gewann den Eindruck, dass er längst beschlossen hatte, den Geheimdienst zu verlassen und etwas Neues anzufangen. Inzwischen habe ich von Shirley Shilling erfahren, warum er sich mit mir in Bristol getroffen hat: Er wollte uns beide auseinanderbringen. Er war indiskret, weil es ihm einzig darum ging, Dich zu vernichten. Als ich ihn um ein Wiedersehen bat, glaubte er, mich am Haken zu haben und meine Wut auf Dich weiter befeuern zu können. Er war später völlig überrascht, als er mitkriegte, dass wir immer noch zusammen waren. Und er war außer sich, als er hörte, dass Du zu der Austen-Veranstaltung im Dorchester kommen wolltest. Also rief er seine Kontaktleute bei der Presse an und warf uns den Hunden zum Fraß vor. Insgesamt habe ich mich in diesem Jahr dreimal mit ihm getroffen. Er hat mir so viel gegeben, er war sehr hilfreich. Ein Jammer, dass ich ihn nicht ausstehen kann. Er hat mir Cannings Geschichte erzählt und wie man ihn ein letztes Mal in einem sicheren Haus vernommen hat, bevor er zum Sterben auf diese Ostseeinsel ging, wie er dabei Nasenbluten bekam und eine Matratze ruinierte, was wiederum Deine Phantasie finstere Blüten treiben ließ. Greatorex fand das alles äußerst amüsant.
    Bei unserem letzten Treffen nannte er mir die Adresse [447] Deiner alten Freundin Shirley Shilling. Ich hatte in der Zeitung von ihr gelesen – ein cleverer Agent hatte fünf Verleger am Haken, die alle unbedingt ihren ersten Roman veröffentlichen wollten, und in L.A. standen sie schon Schlange wegen der Filmrechte. Sie ging an Martin Amis’ Arm, als er zu unserer gemeinsamen Lesung in Cambridge kam. Ich mochte sie auf Anhieb, und sie liebt Dich heiß. Sie hat mir von Euren Pub-Rock-Abenden in London erzählt. Als ich sagte, ich wisse über Eure Arbeit Bescheid, erzählte sie mir von Eurer Putzfrauenaktion und von ihrem Auftrag, Dich auszuspionieren. Sie erwähnte auch Deinen alten Freund Jeremy, und da ich schon in Cambridge war, ging ich bei seinem College vorbei und ließ mir seine Adresse in Edinburgh geben. Ich habe auch Mrs. Canning besucht und mich als ehemaligen Studenten ihres Mannes ausgegeben. Sie war recht höflich, aber viel erfahren habe ich nicht von ihr. Es wird Dich freuen, dass sie nichts von Dir weiß. Shirley hatte angeboten, mich zu Cannings Cottage in Suffolk zu fahren. (Sie fährt wie eine Irre.) Wir spähten in den Garten und machten einen Spaziergang im Wald. Als wir wegfuhren, glaubte ich genug zu wissen, um den Schauplatz Deiner heimlichen Affäre, Deiner Lehrzeit als Geheimagentin, rekonstruieren zu können.
    Von Cambridge, erinnere Dich, fuhr ich weiter zu Deiner Schwester und ihrem Freund Luke. Wie Du weißt, kiffe ich nicht gern. Das engt mir den Geist zu sehr ein. Dieses prickelnde, aufgeladene Ichbewusstsein liegt mir einfach nicht, ebenso wenig wie die freudlose, chemisch induzierte Lust auf Süßes. Aber anders wäre ich mit Lucy nicht ins Gespräch gekommen. So saßen wir drei bei Dämmerlicht [448] auf Kissen am Boden ihrer Wohnung, Weihrauch wallte aus selbstgetöpferten Tongefäßen, aus unsichtbaren Lautsprechern rieselte uns Sitar-Musik auf die Köpfe. Wir tranken reinigenden Tee. Sie hat gewaltigen Respekt vor Dir, die Ärmste, sie sehnt sich nach anerkennenden Worten von ihrer großen Schwester, die sie vermutlich selten zu hören bekommt. Einmal bemerkte sie unglücklich, es sei nicht fair, dass Du klüger und schöner seist. Ich erfuhr, was ich wissen wollte – wie Deine Kindheit

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