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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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aus Rachsucht geboren? Nein, aber Du hast mich entfesselt. Du hast mich nicht gefragt, ob ich bei Honig mitmachen will, und ich habe Dich nicht gefragt, ob Du in meiner Geschichte mitspielen willst. Ian Hamilton hat mir einmal von einem befreundeten Autor erzählt, der intime Details seiner Ehe in einem Roman verwendet hatte. Seine Frau war außer sich, als sie ihr Sexleben und Bettgeflüster minutiös in dem Buch ausgebreitet sah. Sie ließ sich von ihm scheiden, und er war untröstlich, nicht zuletzt, weil sie sehr reich war. Das Problem hatte ich nicht. Ich konnte tun, was ich wollte. Aber ich konnte nicht noch länger mit offenem Mund im Bett sitzen bleiben. Hastig zog ich mich an, nahm mein Notizbuch hervor und schrieb es in zwei Stunden voll. Ich brauchte die Geschichte nur so zu erzählen, wie ich sie erlebt hatte, von dem Augenblick an, als Du mein Büro in der Universität betratst, bis zu meinem Treffen mit Greatorex – und darüber hinaus.
    Am Morgen zog ich voller Tatendrang schon vor dem Frühstück los und kaufte bei einem freundlichen Zeitungshändler drei Schulhefte. Bristol, befand ich, war doch nicht [441] so übel, wie ich gedacht hatte. Zurück auf meinem Zimmer, bestellte ich Kaffee und stürzte mich in die Arbeit. Ich machte Notizen, entwarf die Szenenfolge, versuchte ein paar Absätze. Ich schrieb ein halbes Anfangskapitel. Am Nachmittag wurde ich unruhig. Zwei Stunden später, nachdem ich mir alles durchgelesen hatte, warf ich fluchend den Stift hin, sprang auf und stieß dabei den Stuhl hinter mir um. Scheiße! Das war schwach, das war tot. Ich hatte vierzig Seiten vollgeschrieben, einfach so. Kein Widerstand, keine Schwierigkeiten, kein Feuer, keine Überraschungen, nichts Gehaltvolles oder Ungewöhnliches. Kein Schwung, keine Dynamik. Nur alles, was ich gesehen und gehört und gesagt und getan hatte, fein säuberlich aufgereiht. Das war kein Fall von plumpem Versagen an der Oberfläche. Nein, tief im Innern des Konzepts steckte ein Fehler, wobei das Wort noch viel zu mild war für das, was es bezeichnen sollte. Das Ganze war schlicht uninteressant.
    Ich war dabei, ein kostbares Geschenk zu ruinieren, ich widerte mich selbst an. Am frühen Abend, als es dunkel wurde, unternahm ich einen Spaziergang durch die Stadt und überlegte, ob ich den Brief doch noch an Dich abschicken sollte. Plötzlich ging mir auf: Das Problem war ich selbst. Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht zu haben, präsentierte ich mich in der Maske des typischen Helden eines humoristischen englischen Romans – unfähig und nur beinahe clever, passiv, ernst, dazu überdeutlich und gewollt unkomisch gezeichnet. Da sitze ich ganz zufrieden und denke über die Dichtung des sechzehnten Jahrhunderts nach, als, ist es denn zu glauben, ein schönes Mädchen in meinem Büro auftaucht und mir ein stattliches Stipendium [442] anbietet. Was wollte ich hinter dieser possierlichen Fassade verbergen? Den Schmerz, vermutete ich, an den ich noch gar nicht gerührt hatte.
    Ich ging zur Clifton Suspension Bridge, wo man angeblich zuweilen Selbstmordkandidaten dabei beobachten kann, wie sie die Kettenbrücke auskundschaften und ihren Sturz berechnen. In der Mitte der Brücke blieb ich stehen und starrte in die schwarze Avon-Schlucht. Wieder musste ich an unser zweites Mal denken, in Deinem Zimmer, am Morgen nach dem White Tower. Erinnerst Du Dich? Ich lag rücklings auf den Kissen – welch ein Luxus –, und Du hast Dich auf mir hin und her gewiegt. Ein seliger Tanz. Damals hatte ich in Deinem Gesicht nichts als Lust und erwachende Zuneigung gelesen. Jetzt, da ich wusste, was Du wusstest, was Du zu verbergen hattest, versuchte ich mich in Dich hineinzuversetzen, an zwei Stellen zugleich zu sein, zu lieben und… Bericht zu erstatten. Wie konnte ich in Deinen Kopf gelangen, wie ebenfalls zum Berichterstatter werden? Auf einmal hatte ich’s. Ich sah es klar und deutlich. Es war ganz einfach. Nicht ich sollte diese Geschichte erzählen. Sondern Du. Du würdest an mich Bericht erstatten. Ich musste aus meiner Haut heraus und in Deine schlüpfen. Ich musste mich verwandeln, zum Transvestiten werden, mich in Deine Röcke und Stöckelschuhe zwängen, in Deine Höschen, und mir Deine glänzende weiße Handtasche mit dem langen Riemen über die Schulter hängen. Und dann reden wie Du. Kannte ich Dich gut genug? Sicher nicht. War ich als Bauchredner gut genug? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Ich musste loslegen. Ich nahm

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