Honig
kommen.
An dieser Stelle erhob ich mich aus meinem Lesesessel und ging nach unten, um mir Tee zu machen. Ich war immer noch ein bisschen betrunken, immer noch aufgewühlt nach dem Gespräch mit Shirley. Jetzt durfte ich bloß nicht anfangen, mein Zimmer nach einer Wanze zu durchsuchen, sonst müsste ich mir um meinen Verstand ernstlich Sorgen machen. Ich fürchtete, ich könnte genau wie Neil Carder den Bezug zur Wirklichkeit verlieren. War er die nächste verblendete Figur, die Haleys Erzählkunst in Grund und Boden stampfen würde? Widerstrebend trug ich meinen Tee nach oben, setzte mich auf die Bettkante und zwang mich, Haleys Geschichte wieder zur Hand zu nehmen. Der Leser sollte offensichtlich keine Gelegenheit bekommen, sich dem Wahnsinn des Millionärs zu entziehen, ihn von außen als das zu betrachten, was er war. Unmöglich, dass diese unappetitliche Story gut ausging.
Schließlich ließ ich mich wieder in den Sessel sinken und erfuhr, dass die Schaufensterpuppe Hermione hieß, was zufällig der Name von Carders Exfrau war. Sie hatte ihn nach nicht einmal einem Jahr eines Morgens verlassen. Während Hermione nun an diesem Abend nackt auf dem Bett lag, räumte er einen Schrank im Ankleidezimmer für sie aus und brachte ihre Kleider und Schuhe darin unter. Er duschte, dann zogen sie sich fürs Abendessen um. Er ging [177] nach unten und verteilte das Essen, das Abeje für ihn zubereitet hatte, auf zwei Teller. Es musste nur noch aufgewärmt werden. Dann ging er ins Schlafzimmer zurück und brachte sie nach unten in den prächtigen Speiseraum. Sie aßen schweigend. Ja sie rührte ihr Essen nicht einmal an und wich seinem Blick beharrlich aus. Das konnte er verstehen. Die Spannung zwischen ihnen war beinahe unerträglich – einer der Gründe, warum er zwei Flaschen Wein trank. Er war so betrunken, dass er sie nach oben tragen musste.
Was für eine Nacht! Er gehörte zu den Männern, denen die Passivität einer Frau ein Ansporn war, ein mächtiger Reiz . Selbst im Taumel seiner Sinne nahm er die Langeweile in ihrem Blick wahr, die ihn zu neuen Gipfeln der Ekstase führte. Endlich, kurz vor Morgengrauen, ließen sie voneinander ab, vollkommen erschöpft und befriedigt. Stunden später weckte ihn die Sonne, die durch die Vorhänge schien, und er drehte sich auf die Seite. Es rührte ihn tief, dass sie die ganze Nacht auf dem Rücken geschlafen hatte. Auch ihre stille Ruhe gefiel ihm. Ihre Insichgekehrtheit war so intensiv, dass sie in ihr Gegenteil umschlug und zu einer Macht wurde, die ihn überwältigte, ihn verzehrte und seine Liebe zur erotischen Obsession steigerte. Was als müßige Träumerei vor einem Schaufenster begonnen hatte, war jetzt eine intakte Innenwelt, eine atemberaubende Realität, die er mit der Inbrunst eines religiösen Fanatikers verteidigte. Er konnte sich nicht erlauben, Hermione für leblos zu halten, weil seine Lust auf der masochistischen Voraussetzung beruhte, dass sie nichts von ihm wissen wollte, ihn von oben herab ansah und ihrer Küsse, ihrer Zärtlichkeiten und selbst ihrer Unterhaltung nicht für würdig erachtete.
[178] Als Abeje das Schlafzimmer betrat, um dort Ordnung zu schaffen, erblickte sie zu ihrer Überraschung Hermione, die in einem zerrissenen Seidenkleid in einer Ecke stand und aus dem Fenster starrte. Aber dann entdeckte die Haushälterin in einem der Schränke zahlreiche elegante Damenkleider. Das freute sie. Sie war eine intelligente, bodenständige Frau, die wehmütig insistierenden Blicke ihres Arbeitgebers waren ihr nicht entgangen und ihr unangenehm gewesen. Jetzt hatte er eine Geliebte. Was für eine Erleichterung! Und wenn diese Frau eine Schaufensterpuppe mitbrachte, um ihre Kleider daran aufzuhängen – wen störte das schon? Das extrem zerwühlte Bettzeug sprach Bände – wie sie es am selben Abend auf Yoruba, ihrer Muttersprache, formulierte, um ihren muskulösen Gatten anzuspornen: Die beiden singen wahrhaftig.
Auch in Beziehungen, in denen die Liebe auf Gegenseitigkeit beruht und die Worte nur so strömen, ist es nahezu unmöglich, jenen anfänglichen Zustand der Verzückung länger als ein paar Wochen aufrechtzuerhalten. Historisch betrachtet, mag das nur einer Handvoll einfallsreicher Paare gelungen sein. Doch wenn das sexuelle Terrain nur von einem einzigen Kopf beackert wird, eine einsame Gestalt die Wildnis rodet und sie urbar machen will, muss das Ende binnen Tagen kommen. Eben das, was Carders Liebe nährte – Hermiones Schweigen –,
Weitere Kostenlose Bücher