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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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hätte ich aufstehen und meinen Stuhl unter den Schreibtisch schieben müssen. Auf dem Tisch lag ein Stapel Briefpapier mit der Adresse der Stiftung ›Freedom International‹ in der Upper Regent Street und einer picassoesken aufflatternden Taube mit einem offenen Buch im Schnabel. Wir hatten beide die Broschüre der Stiftung vor uns, auf der vorne das Wort »Freiheit« schräg und in leicht verwackelten, wie gestempelten roten Buchstaben prangte. ›Freedom International‹, ein eingetragener Wohltätigkeitsverein, hatte sich der Förderung der »Exzellenz und der Freiheit der Künste in aller Welt« verschrieben. Die Stiftung war durchaus ernst zu nehmen. Sie hatte Autoren in Jugoslawien, Brasilien, Chile, Kuba, Syrien, Rumänien [183] und Ungarn unterstützt, durch Zuschüsse, Übersetzungsförderung und anderweitige Maßnahmen, zudem eine Tanztruppe in Paraguay, Journalisten in Francos Spanien und Salazars Portugal und Dichter in der Sowjetunion. Sie hatte einem Schauspielerkollektiv in Harlem, New York, Geld gegeben und einem Barockorchester in Alabama, und sich mit Erfolg dafür eingesetzt, dass die Zensur des Lord Chamberlain über das britische Theater aufgehoben wurde.
    »Ein anständiger Verein«, sagte Max. »Da stimmst du mir hoffentlich zu. Treten überall für ihre Werte ein. Ganz anderes Kaliber als diese Apparatschiks vom IRD . In jeder Hinsicht raffinierter.«
    Er trug einen dunkelblauen Anzug. Stand ihm viel besser als das senfgelbe Jackett, das er sonst jeden zweiten Tag anhatte. Und weil er sich die Haare wachsen ließ, fielen seine abstehenden Ohren nicht mehr so auf. Die einzige Lichtquelle im Raum, eine Glühbirne unter einem Blechschirm, hob seine Wangenknochen und den Bogen seiner Lippen hervor. Seine elegante, schöne Erscheinung passte so gar nicht in dieses winzige Zimmer, in dem er hockte wie ein Tier in einem zu kleinen Käfig.
    Ich sagte: »Warum wurde Shirley Shilling gefeuert?«
    Mein abrupter Themenwechsel brachte ihn nicht aus der Fassung. »Ich hatte gehofft, du wüsstest vielleicht mehr.«
    »Hat es mit mir zu tun?«
    »Schau, in so einem Laden wie hier, das ist… man hat all diese Kollegen, angenehme, reizende Leute aus gutem Haus und so weiter. Aber wenn man nicht gerade gemeinsam an einer Operation arbeitet, dann weiß man nicht, was sie machen, worin ihre Arbeit besteht und ob sie gut darin sind [184] oder nicht. Man weiß nicht, ob man es mit grinsenden Idioten oder freundlichen Genies zu tun hat. Plötzlich werden sie befördert oder gefeuert, und man hat keine Ahnung, warum. So ist das eben.«
    Ich glaubte ihm nicht, dass er nichts wusste. Wir schwiegen und ließen das Thema auf sich beruhen. Seit Max mir am Ausgang vom Hyde Park erzählt hatte, dass er mich immer mehr ins Herz schließe, hatten wir sehr wenig Zeit miteinander verbracht. Ich spürte, dass er in der Hierarchie aufrückte und sich von mir entfernte.
    Er sagte: »Bei der Besprechung neulich hatte ich den Eindruck, dass du über das IRD nicht richtig im Bilde bist. Information Research Department, das Ressort für Informationsbeschaffung. Offiziell existiert es gar nicht. 1948 gegründet, dem Außenministerium angegliedert, Büros in Carlton Terrace. Das IRD soll durch regierungsfreundliche Journalisten und Nachrichtenagenturen Informationen über die Sowjetunion in die Öffentlichkeit schleusen, Daten und Fakten zur Verfügung stellen, der Propaganda widersprechen, gewisse Publikationen fördern. Also das Übliche – Arbeitslager, kein Rechtsstaat, miese Lebensbedingungen, Unterdrückung Andersdenkender. Generell unterstützen sie die nicht-kommunistische Linke und tun alles, um die hiesigen Hirngespinste über das Leben im Osten zu entkräften. Aber das IRD verzettelt sich. Letztes Jahr haben sie der Linken einzureden versucht, wir müssten Europa beitreten. Lächerlich. Und Gott sei Dank ziehen wir sie jetzt von Nordirland ab. Früher haben sie gute Arbeit geleistet. Heute sind sie aufgebläht und plump. Und ziemlich irrelevant. Man munkelt, dass der Laden bald [185] dichtgemacht wird. Aber hier im Haus stört man sich vor allem daran, dass das IRD zum Werkzeug des MI 6 geworden ist und sich auf Desinformation verlegt hat, Täuschungsmanöver, die niemanden täuschen. Ihre Berichte stammen aus zwielichtigen Quellen. Mit Hilfe des IRD und seines sogenannten Action Desk lässt der MI 6 den letzten Krieg wieder aufleben. Was die veranstalten, ist alberner Pfadfinderkram. Deswegen ist diese ›Gesicht zur

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