Honig
stand, musste das an irgendeinem bürokratischen Fehler liegen, aber das machte Nutting und Co. nicht weniger furchterregend. Und bestätigt zu kriegen, dass sie die Aufpasser in mein Zimmer geschickt hatten und irgendein Trottel mein Lesezeichen hatte fallen lassen, war auch kein Trost.
Die Band stürzte sich übergangslos in das zweite Stück, [171] My Rockin’ Days . Wenn die Aufpasser sich wirklich unter das biertrinkende Publikum gemischt hatten, befanden sie sich viel näher an den Lautsprechern als ich. Das war vermutlich nicht gerade ihre Art von Musik. Diese stumpfsinnigen A4-Typen standen garantiert eher auf Easy Listening. Nicht auf so einen hämmernden Krach. Das war immerhin ein Trost, wenn auch ein schwacher.
Ich beschloss, nach Hause zu gehen und noch eine Erzählung zu lesen.
Niemand wusste, woher Neil Carder sein Geld hatte oder wieso er allein in einer Achtzimmervilla in Highgate lebte. Von den Nachbarn, die ihn gelegentlich auf der Straße antrafen, kannten die meisten nicht einmal seinen Namen. Ein unauffälliger Mensch, Ende dreißig, schmales, blasses Gesicht, sehr schüchtern und unbeholfen, ohne jedes Talent für die Art von Smalltalk, die nähere Bekanntschaften anbahnt. Aber er machte keinen Ärger und hielt Haus und Garten in Ordnung. Wenn sein Name einmal in Tratschgeschichten auftauchte, ging es zumeist um den großen weißen 1959er Bentley, der vor seinem Haus parkte. Was machte ein unscheinbarer Bursche wie Carder mit so einem auffälligen Schlitten? Spekuliert wurde auch über die junge, fröhliche, buntgekleidete nigerianische Haushälterin, die sechs Tage die Woche zu ihm ins Haus kam. Abeje erledigte die Einkäufe, machte die Wäsche, kochte, sie war attraktiv und bei den wachsamen Hausfrauen beliebt. Aber war sie auch Mr. Carders Geliebte? Das schien so unwahrscheinlich, dass manche tatsächlich zu dieser Annahme neigten. Diese blassen, stillen Männer, da konnte man nie wissen… [172] Andererseits wurden die beiden nie zusammen gesehen, Abeje saß nie in seinem Auto, sie ging immer kurz nach dem Tee und wartete am Ende der Straße auf den Bus nach Willesden. Falls Neil Carder ein Sexleben hatte, spielte es sich im Haus und ausschließlich zwischen neun und fünf ab.
Eine kurze Ehe und ihre Nachwehen, eine beträchtliche und unverhoffte Erbschaft sowie ein introvertiertes, wenig abenteuerlustiges Gemüt hatten Carders Leben jeglichen Inhalts beraubt. Es war ein Fehler gewesen, ein so großes Haus in einem Londoner Stadtteil zu kaufen, mit dem er nicht vertraut war, aber er konnte sich nicht dazu entschließen, ein anderes zu erwerben und umzuziehen. Was hätte das für einen Sinn gehabt? Seine wenigen Freunde und die Kollegen im Staatsdienst hatten sich von seinem plötzlichen, ungeheuren Reichtum abgestoßen gefühlt. Vielleicht waren sie neidisch. Wie auch immer, die Leute standen nicht gerade Schlange, um ihm zu helfen, sein Geld loszuwerden. Abgesehen von Haus und Auto hatte er keine großartigen materiellen Ansprüche, keine Hobbys, denen er endlich nachgehen konnte, keine philanthropischen Anwandlungen, und Auslandsreisen reizten ihn nicht. Abeje freilich war eine schöne Dreingabe, und sie brachte ihn auch zum Träumen, sehr sogar, aber sie war verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Ihr Mann, ebenfalls Nigerianer, hatte früher für die Fußballnationalmannschaft im Tor gestanden. Ein Blick auf einen Schnappschuss von ihm hatte Carder klargemacht: Da konnte er nicht mithalten, er war nicht Abejes Typ.
Neil Carder war ein langweiliger Mensch, und sein [173] Leben machte ihn noch langweiliger. Er schlief lange, studierte sein Aktienportfolio und sprach mit seinem Börsenmakler, las ein bisschen, sah fern, spazierte gelegentlich in Hampstead Heath herum oder ging in Bars und Clubs, immer in der Hoffnung, dort jemanden kennenzulernen. Aber er war zu schüchtern, um fremde Frauen anzusprechen, und so ergab sich nie etwas. Er befand sich in der Schwebe, er wartete auf den Beginn eines neuen Lebens, sah sich aber außerstande, die Initiative zu ergreifen. Und als es endlich doch begann, geschah es auf höchst unspektakuläre Weise. Auf dem Heimweg von seinem Zahnarzt in der Wigmore Street kam er in der Oxford Street, unweit von Marble Arch, an einem Kaufhaus vorbei, in dessen riesigen Schaufenstern etliche Schaufensterpuppen in verschiedenen Abendkleidern und Posen aufgestellt waren. Er blieb kurz stehen und betrachtete sie, wurde verlegen, ging ein paar Schritte weiter,
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