Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
zögerte und kehrte wieder um. Die Puppen – bald sollte er diesen Ausdruck hassen – waren wie zu einer kultivierten Cocktailparty arrangiert. Eine Frau beugte sich vor, als wolle sie einer anderen ein Geheimnis verraten, die ihrerseits in amüsierter Skepsis einen steifen weißen Arm hob, während eine Dritte gelangweilt über die Schulter zu einer Tür blickte, wo ein rauher Bursche im Smoking mit seiner unangezündeten Zigarette stand.
    Aber sie alle ließen Neil kalt. Was ihn faszinierte, war eine junge Frau, die sich von der Gruppe abgewandt hatte. Sie betrachtete einen Kupferstich – eine Ansicht von Venedig – an der Wand. Genau genommen sah sie knapp daran vorbei. Offenbar hatte der Schaufensterdekorateur nicht aufgepasst, oder, wie Neil sich plötzlich ausmalte, die Frau [174] selbst hatte den Kopf ein wenig abgedreht und sah jetzt nicht auf das Bild, sondern direkt in die Ecke. Sie verfolgte einen Gedanken, eine Idee, und es war ihr egal, welchen Eindruck sie machte. Eigentlich wollte sie gar nicht da sein. Sie trug ein orangefarbenes Seidenkleid mit schlichtem Faltenwurf und war im Gegensatz zu den anderen barfuß. Ihre Schuhe – das mussten ihre Schuhe sein – lagen neben der Tür, als hätte sie sie beim Eintreten von den Füßen geschleudert. Sie liebte offenbar die Freiheit. In einer Hand hielt sie eine kleine, schwarz-orange, mit Perlen bestickte Handtasche, die andere hing lässig herab, das Handgelenk nach außen gedreht, während sie ihrer Idee nachsann. Oder vielleicht auch einer Erinnerung. Den Kopf hielt sie leicht gesenkt, so dass ihr elegant geschwungener Nacken gut zur Geltung kam. Ihr Mund stand ein klein wenig offen, als setze sie zu einer Bemerkung an, forme ein Wort, einen Namen… Neil.
    Er riss sich aus seinem Tagtraum. So was Lächerliches, dachte er, ging zielstrebig weiter und sah auf die Uhr, wie um sich selbst zu beweisen, dass er tatsächlich ein Ziel hatte. Hatte er aber nicht. Ihn erwartete nichts als sein leeres Haus in Highgate. Wenn er dort ankam, wäre Abeje schon weg. Er konnte sich nicht einmal auf die neuesten Nachrichten von ihren kleinen Kindern freuen. Er zwang sich weiterzugehen, er spürte deutlich, dass er am Rande des Wahnsinns war, denn eine Idee nahm in seinem Kopf Gestalt an und wurde immer drängender. Es sprach für seine Willenskraft, dass er es bis zum Oxford Circus schaffte, ehe er kehrtmachte. Weniger gut war, dass er fast im Laufschritt zum Kaufhaus zurückeilte. Diesmal war es ihm nicht mehr [175] peinlich, neben ihr zu stehen und sie in diesem ihrem höchst privaten Moment zu beobachten. Jetzt sah er auch ihr Gesicht. So gedankenverloren, so traurig, so schön. Sie stand so abseits, so allein. Um sie herum nur seichtes Gerede, das hatte sie alles schon mal gehört, das waren nicht ihre Leute, das war nicht ihr Milieu. Sie wollte fort, aber wie? Es war ein süßes, verlockendes Traumbild, und in diesem Stadium hatte Carder kein Problem, sich einzugestehen, dass es ein Traum war. Dieser Beweis seiner geistigen Gesundheit gab ihm erst recht die Freiheit, sich gehenzulassen, während der Strom der Passanten sich auf dem Bürgersteig an ihm vorbeidrückte.
    Später konnte er sich nicht erinnern, ob er zuerst noch hin und her überlegt oder sich auf der Stelle entschieden hatte. Mit einem Gefühl von Schicksalhaftigkeit ging er in das Kaufhaus, sprach jemanden an, wurde an jemand anderen verwiesen, dann an einen ranghöheren Dritten, der ihm eine glatte Abfuhr erteilte. Vollkommen ausgeschlossen. Ein Betrag wurde genannt, eine Augenbraue hochgezogen, ein Vorgesetzter herbeigerufen, der Betrag verdoppelt und eine Einigung erzielt. Ende der Woche? Nein, jetzt sofort, und das Kleid, das sie anhatte, wollte er auch haben, dazu noch mehrere andere in der richtigen Größe. Die Verkäuferinnen und Abteilungsleiter standen um ihn herum. Sie hatten es, und nicht zum ersten Mal, mit einem Exzentriker zu tun. Mit einem Verliebten. Alle wussten sie, hier bahnte sich ein gewaltiges Geschäft an. Denn solche Kleider waren nicht billig, ebenso wenig wie die verschiedenen dazu passenden Schuhe oder die Unterwäsche aus changierender Seide. Fehlte noch – wie ruhig und entschlossen der Typ [176] war – Schmuck. Und Parfum, fiel ihm ganz zum Schluss ein. Alles in zweieinhalb Stunden erledigt. Ein Lieferwagen wurde unverzüglich angefordert, die Adresse in Highgate notiert, die Zahlung geleistet.
    Am Abend sah niemand sie, in den Armen des Fahrers, ins Haus

Weitere Kostenlose Bücher