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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Karriereaussichten.«
    Das war unterste Schublade. Ich konnte mir nicht eingestehen, wie sehr mich die Nachricht von seiner Verlobung verletzt hatte. Seine Selbstbeherrschung machte mich rasend. Ich wollte ihn provozieren, ihn bestrafen, und jetzt war es mir gelungen: Er sprang auf, er zitterte.
    »Seid ihr Frauen denn wirklich unfähig, Berufliches und Privates auseinanderzuhalten? Ich versuche dir zu helfen, Serena. Du hörst mir nicht zu. Lass es mich anders formulieren. In unserem Job kann die Grenze zwischen dem, was Leute sich einbilden, und dem, was tatsächlich der Fall ist, sehr unscharf werden. Genau genommen ist diese Grenze eine graue Nebellandschaft, groß genug, um sich darin zu verirren. Du bildest dir was ein – und dann wird es plötzlich wahr. Die Gespenster werden real. Drücke ich mich jetzt verständlich aus?«
    Ich fand nicht. Ich stand auf, bereit zu einer Retourkutsche, aber er hatte genug von mir. Ehe ich den Mund aufmachen konnte, sagte er etwas ruhiger: »Du gehst jetzt besser. Tu einfach deine Arbeit. Mach alles nicht unnötig kompliziert.«
    Aus meinem stürmischen Abgang wurde nichts. Um den Raum zu verlassen, musste ich erst meinen Stuhl unter den Schreibtisch schieben und mich um ihn herum zwängen, und zuknallen konnte ich die verzogene Tür auch nicht.

[195] 11
    Ich arbeitete in einer Bürokratie, und die Sache verzögerte sich wie auf Anweisung von oben. Mein Briefentwurf an Haley wurde Max vorgelegt, der an diesem wie auch an meinem zweiten Versuch einige Änderungen vornahm, und als ein dritter endlich an Peter Nutting und dann an Benjamin Trescott weitergeleitet worden war, wartete ich fast drei Wochen auf ihre Anmerkungen. Die wurden dann eingefügt, Max gab dem Ganzen den letzten Schliff, und fünf Wochen nach meiner ersten Fassung brachte ich die fünfte und endgültige zur Post. Ein Monat verging, und wir hörten nichts. Wir ließen Nachforschungen anstellen und erfuhren, dass Haley sich zu Recherchen im Ausland aufhielt. Erst Ende September bekamen wir seine Antwort, ein schiefes Gekritzel auf liniertem Papier, das aus einem Notizblock gerissen war. Es sah gewollt gleichgültig aus. Er schrieb, er würde gern mehr erfahren. Er verdiene seine Brötchen als Dozent an der Uni, habe also jetzt ein Büro auf dem Campus. Dort sollten wir uns treffen, schlug er vor, denn er wohne ziemlich beengt.
    Ich hatte eine letzte kurze Besprechung mit Max.
    Er fragte: »Was hältst du von dieser Geschichte in der Paris Review, der mit der Schaufensterpuppe?«
    »Die fand ich interessant.«
    [196] »Serena! Die war vollkommen unglaubwürdig. Ein Typ mit solchen Wahnvorstellungen würde doch garantiert in der geschlossenen Abteilung einer Irrenanstalt landen.«
    »Woher willst du wissen, dass das nicht passiert ist?«
    »Dann hätte Haley es dem Leser sagen sollen.«
    Bevor ich sein Büro verließ, erzählte mir Max noch, dass drei Honig-Autoren das Stipendium von ›Freedom International‹ bereits akzeptiert hätten. Ich solle weder ihn noch mich selbst enttäuschen, Nummer vier dürfe mir nicht durch die Lappen gehen.
    »Ich dachte, ich soll die Spröde spielen.«
    »Wir sind im Vergleich zu den anderen im Rückstand. Peter wird langsam ungeduldig. Auch wenn er nichts taugt, nimm ihn einfach unter Vertrag.«
    Es war eine angenehme Abwechslung von meinem Alltag, als ich an einem ungewöhnlich warmen Morgen Mitte Oktober nach Brighton fuhr und aus der Höhle des Bahnhofs in die salzige Seeluft hinaustrat, wo Silbermöwen mich mit ihren fallenden Schreien begrüßten. Beim Anblick der Möwen musste ich an eine Freiluftaufführung von Othello denken, die ich einmal auf dem Rasen vor dem King’s College gesehen hatte. »Möwe« war zu Shakespeares Zeiten ein Ausdruck für »Dummkopf«. Lief ich etwa einem Dummkopf nach? Bestimmt nicht. Ich nahm den klapprigen, aus drei Waggons bestehenden Regionalzug nach Lewes, stieg in Falmer aus und legte die Viertelmeile zu dem modernen Gebäudekomplex, der sich Universität von Sussex nannte (früher von der Presse auch gern als Balliol-by-the-Sea bezeichnet), zu Fuß zurück. Ich trug einen roten Minirock, eine schwarze Jacke mit hohem Kragen, schwarze [197] Stöckelschuhe und eine Schultertasche aus weißem Lackleder mit kurzem Riemen. Ohne Rücksicht auf meine schmerzenden Füße stolzierte ich durch die Massen der Studenten über den gepflasterten Weg auf den Haupteingang zu, sah naserümpfend auf die Jungs herab – für mich waren es Jungs –, die

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