Honig
fast alle schäbige Armeeparkas anhatten, und erst recht auf die Mädchen in ihren indischen Baumwollröcken, ungeschminkt, mit langen glatten Haaren und Mittelscheitel. Manche waren barfuß, vermutlich aus Solidarität mit den Bauern in den Entwicklungsländern. Allein schon das Wort »Campus« erschien mir als frivoler Import aus den USA . Selbstbewusst näherte ich mich dem Bauwerk, das Sir Basil Spence in diesem entlegenen Winkel der Sussex Downs aus dem Boden gestampft hatte, und brachte für die Idee von Universitätsneugründungen nur Verachtung auf. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich stolz auf Cambridge und das Newnham College. Wie konnte eine ernstzunehmende Universität neu sein? Und wer wollte sich mir in den Weg stellen, wie ich da in meinem rot-weiß-schwarzen Outfit unwillig auf die Pförtnerloge zustrebte, wo ich mich nach dem Weg erkundigen wollte?
Ich gelangte auf einen Platz, der vermutlich als architektonische Anspielung auf einen College-Innenhof gedacht war. Eingefasst wurde er von seichten Wasserflächen, rechteckigen, mit glatten Flusskieseln umrandeten Teichen. Wenig Wasser war darin, dafür umso mehr Bierdosen und Papiertüten. Aus dem Ziegel- und Glasbau vor mir drang das Hämmern und Jaulen von Rockmusik. Ich erkannte die rauhe, keuchende Flöte von Jethro Tull. Hinter den großen Fenstern im Obergeschoss sah ich Gestalten, Spieler und [198] Zuschauer, über Reihen von Kickertischen gebeugt. Die Räume der Studentenschaft, was sonst. Überall ähnelten sie sich, diese Orte zum ausschließlichen Gebrauch stumpfsinniger Jungs, hauptsächlich Mathematiker und Chemiker. Mädchen und Ästheten gingen woandershin. Für eine Universität war es eine armselige Visitenkarte. Ich ging schneller und bemerkte zu meinem Ärger, dass ich unwillkürlich in den Rhythmus des donnernden Schlagzeugs gefallen war. Ich kam mir vor, als näherte ich mich einem Ferienlager.
Der gepflasterte Weg führte unter den Räumen der Studentenschaft hindurch und von dort durch eine Glastür in den Empfangsbereich. Zumindest die Pförtner in ihren Uniformen hinter dem langen Empfangstisch kamen mir vertraut vor – diese spezielle Sorte Männer mit ihrer müden Toleranz, ihrer grummeligen Gewissheit, klüger zu sein als alle Studenten zusammen. Während die Musik hinter mir verebbte, folgte ich ihrer Wegbeschreibung, überquerte einen weiten Platz, ging zwischen riesigen Rugbypfosten aus Beton hindurch in den geisteswissenschaftlichen Block A hinein und kam auf der anderen Seite, schon mit Blick auf Block B, wieder heraus. Warum konnten die ihre Gebäude nicht nach Künstlern oder Philosophen benennen? Drinnen bog ich in einen Korridor und ging an Türen zu Dozentenbüros vorbei, an die alles Mögliche geheftet war. Ein Kärtchen mit der Aufschrift: »Die Welt ist alles, was der Fall ist«, ein Black-Panther-Poster, ein Hegel-Zitat auf Deutsch, ein Merleau-Ponty-Zitat auf Französisch. Was für Angeber. Am Ende eines weiteren Korridors lag Haleys Zimmer. Bevor ich anklopfte, zögerte ich kurz.
Ich stand neben einem hohen schmalen Fenster, das auf [199] eine große Rasenfläche hinausging. In dem Licht konnte ich mein verwässertes Spiegelbild in der Scheibe sehen, also nahm ich einen Kamm, fuhr mir rasch damit durchs Haar und rückte meinen Kragen gerade. Meine leichte Nervosität kam daher, dass ich in den vergangenen Wochen mit meiner persönlichen Version von Haley sehr vertraut geworden war, ich hatte seine Gedanken über Sex und Verrat, Stolz und Versagen gelesen. Wir hatten bereits eine gemeinsame Basis, und ich wusste, die würde nun gleich entweder umformuliert oder zerstört werden. Was auch immer er in Wirklichkeit war, es würde eine Überraschung sein und wahrscheinlich eine Enttäuschung. Sobald wir uns die Hand gaben, würde unsere Vertrautheit ins Gegenteil umschlagen. Auf der Fahrt nach Brighton hatte ich noch einmal alle seine journalistischen Arbeiten gelesen. Im Gegensatz zu seinen Erzählungen waren das kühle, skeptische, im Ton recht schulmeisterliche Texte, als hätte Haley beim Schreiben an ideologisch eher unbedarfte Naturen gedacht. Der Artikel über den Aufstand des 17. Juni 1953 in der DDR begann mit »Soll niemand denken, der Arbeiterstaat liebe seine Arbeiter. Er hasst sie« und verhöhnte Brechts Gedicht über die Regierung, die das Volk auflöst und sich ein neues wählt. Denn Brechts erster Impuls war Haley zufolge gewesen, vor der DDR -Führung zu »kriechen«, indem er die brutale
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