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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Unterdrückung der Streiks durch die Sowjets öffentlich befürwortete. Russische Soldaten hatten direkt in die Menge geschossen. Ohne viel über ihn zu wissen, hatte ich selbstverständlich angenommen, Brecht stehe auf der Seite der Guten. Ich wusste weder, ob Haley recht hatte, noch wie ich die Direktheit seiner journalistischen Texte mit der [200] raffinierten Intimität seiner Erzählungen in Einklang bringen sollte, und ich ahnte, wenn wir uns erst einmal kennenlernten, würde ich noch weniger wissen.
    Ein aggressiverer Artikel attackierte westdeutsche Autoren als prinzipienlose Feiglinge, weil sie in ihren Romanen die Berliner Mauer ignorierten. Natürlich verabscheuten sie deren Existenz, fürchteten aber, wenn sie dies aussprächen, als Sympathisanten der amerikanischen Außenpolitik zu erscheinen. Dabei, so Haley, sei das ein großartiges, ein unumgängliches Thema, in dem geopolitische und persönliche Tragödie zusammenfielen. Zu einer Londoner Mauer hätte doch sicherlich jeder britische Schriftsteller etwas zu sagen. Würde Norman Mailer eine Mauer ignorieren, die Washington teilte? Würde Philip Roth etwa wegsehen, wenn die Häuser von Newark entzweigeschnitten würden? Und würden John Updikes Figuren die Gelegenheit verschmähen, über die Grenze eines geteilten New England hinweg Heiratsbande zu knüpfen? Doch diese verhätschelte, übersubventionierte, von der pax Americana vor der sowjetischen Unterdrückung bewahrte literarische Kultur zog es vor, die Hand zu hassen, die ihr Freiheit garantierte. Westdeutsche Autoren täten so, als gebe es die Mauer nicht, und verlören damit jegliche moralische Autorität. Der Titel des Aufsatzes, veröffentlicht in Index on Censorship, lautete La Trahison des Clercs.
    Mit einem meiner perlmuttrosa lackierten Nägel tickte ich leise an die Tür, und als von drinnen ein undeutlicher Murmel- oder Stöhnlaut kam, stieß ich sie auf. Ich hatte mich zu Recht auf eine Enttäuschung gefasst gemacht. Hinter dem Schreibtisch erhob sich ein schmächtiger Mann, [201] der sich aber immerhin die Mühe machte, seinen etwas krummen Rücken gerade aufzurichten. Er war schlank wie ein Mädchen, hatte dünne Unterarme, und als ich seine Hand schüttelte, kam sie mir kleiner und weicher vor als meine eigene. Sehr blasser Teint, dunkelgrüne Augen, lange dunkelbraune Haare, zu einer Art Bob geschnitten. In den ersten Sekunden fragte ich mich, ob mir in seinen Erzählungen ein transsexuelles Element entgangen sei. Aber nun stand er vor mir, der Zwillingsbruder, der blasierte Vikar, der clevere Labour-Abgeordnete, der einsame Millionär, der sich in einen leblosen Gegenstand verliebt hatte. Er trug ein kragenloses Hemd aus gesprenkeltem weißem Flanell, enge Jeans mit breitem Gürtel und abgewetzte Lederstiefel. Eine irritierende Erscheinung. Die Stimme, die aus diesem zierlichen Körper kam, war tief, ohne regionale Färbung, rein und klassenlos.
    »Lassen Sie mich das wegräumen, damit Sie sich setzen können.« Er nahm ein paar Bücher von einem Sessel ohne Armlehnen und demonstrierte mir damit, wie ich leicht verärgert registrierte, dass er für meinen Besuch keine besonderen Vorbereitungen getroffen hatte. »Hatten Sie eine gute Fahrt? Möchten Sie Kaffee?«
    Die Fahrt sei ganz angenehm gewesen, sagte ich, und Kaffee sei nicht nötig.
    Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, schwenkte den Stuhl zu mir herum, schlug die Beine übereinander, lächelte dünn und breitete fragend die Hände auseinander. »Also, Miss Frome…«
    »… reimt sich auf Ruhm. Aber sagen Sie bitte Serena zu mir.«
    [202] Er legte den Kopf schief und wiederholte meinen Namen. Dann sah er mir freundlich in die Augen und wartete. Mir fielen die langen Wimpern auf. Ich war gut vorbereitet und hatte keine Schwierigkeiten, ihm alles darzulegen. Wahrheitsgemäß. Die Arbeit von ›Freedom International‹, das weite Betätigungsfeld der Stiftung, ihre globale Ausrichtung, ihre vorurteilslose und unideologische Grundhaltung. Er hörte mir zu, den Kopf immer noch zur Seite geneigt, ein skeptisches Lächeln im Gesicht, ein leichtes Beben auf den Lippen, als wollte er gleich etwas sagen oder das Gespräch selbst in die Hand nehmen und meinen Ausführungen zustimmen oder sie korrigieren. Seine Miene war die eines Mannes, der sich einen langatmigen Witz anhört und mit gespitzten Lippen auf eine zündende Pointe wartet. Während ich die Autoren und Künstler aufzählte, die von der Stiftung unterstützt

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