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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Weihnachtsgeschenk meiner Mutter. Papiertaschentücher verbreiteten sich damals gerade rasend schnell, genauso wie Einkaufswagen. Die Welt wurde rapide zu einer Wegwerfwelt. Während ich mir einen Augenwinkel abtupfte, versuchte ich zu einem Entschluss zu kommen. In meiner Tasche ruhte das dreieckige Stück Papier mit den Bleistiftbuchstaben. Ich hatte mich umentschieden. Es Max zu zeigen war genau das Richtige. Oder genau das Falsche. Dazwischen gab es nichts.
    »Ist irgendwas?«
    »Nur ein bisschen Heuschnupfen.«
    Schließlich sagte ich mir, was ich mir schon oft gesagt hatte: Immer noch besser, oder zumindest interessanter, wenn Max mir Lügen auftischt, als wenn ich überhaupt nichts weiß. Ich nahm den Zeitungsschnipsel und schob ihn über den Schreibtisch. Er warf einen Blick darauf, drehte ihn um, legte ihn hin und starrte mich an.
    »Nun?«
    »Canning und die Insel, deren Namen du so clever erraten hast.«
    »Wo hast du das her?«
    »Wenn ich’s dir sage, redest du dann offen mit mir?«
    Er antwortete nicht, aber ich erzählte ihm trotzdem von dem sicheren Haus in Fulham und dem Einzelbett und der Matratze.
    »Wer war mit dir dort?«
    Ich sagte es ihm, und er hauchte ein leises »Ah« in seine Hände. Dann sagte er: »Deshalb hat man sie gefeuert.«
    [189] »Das heißt?«
    Er breitete hilflos die Hände aus. Ich war nicht befugt, das zu erfahren.
    »Darf ich das behalten?«
    »Auf keinen Fall.« Ehe er zugreifen konnte, schnappte ich mir den Zettel und verstaute ihn in meiner Tasche.
    Er räusperte sich leise. »Dann sollten wir zum nächsten Punkt kommen. Die Erzählungen. Was wirst du ihm sagen?«
    »Ganz aufgeregt, großartiges neues Talent, außerordentliche Bandbreite, wunderbar geschmeidige Prosa, äußerst einfühlsam, insbesondere was Frauen betrifft, scheint sie von innen heraus zu kennen und zu verstehen, im Gegensatz zu den meisten Männern, möchte ihn unbedingt näher kennenlernen und –«
    »Serena, das reicht!«
    »Bin überzeugt, dass er eine große Zukunft vor sich hat, eine Zukunft, an der die Stiftung gern teilhaben möchte. Insbesondere, falls er einen Roman schreiben will. Wir zahlen ihm – wie viel?«
    »Zweitausend im Jahr.«
    »Für wie viele Jahre?«
    »Zwei. Verlängerbar.«
    »Mein Gott. Wie kann er da nein sagen?«
    »Weil eine wildfremde Frau auf seinem Schoß sitzt und ihm das Gesicht abschleckt. Du musst kühler sein. Ihn auf dich zukommen lassen. Die Stiftung ist zwar interessiert, aber noch ist nichts entschieden, es gibt jede Menge andere Kandidaten, wie sehen seine Pläne für die Zukunft aus und so weiter.«
    [190] »Gut. Ich spiele die Spröde. Und dann gebe ich ihm alles.«
    Max lehnte sich zurück, verschränkte die Arme, blickte zur Decke und sagte: »Serena, du bist aufgebracht und traurig, und das tut mir leid. Ich weiß ehrlich nicht, warum Shilling gefeuert wurde, und ich weiß auch nichts über deinen Zettel da. Punkt. Aber hör zu, da gibt es etwas, was ich dir wohl erzählen sollte. Über mich.«
    Jetzt würde er also aussprechen, was ich seit langem vermutete: dass er homosexuell war. Ich schämte mich. Ich hatte ihm kein Geständnis abnötigen wollen.
    »Ich verrate dir das, weil wir immer gute Freunde waren.«
    »Ja.«
    »Aber es darf diesen Raum nicht verlassen.«
    »Niemals!«
    »Ich bin verlobt.«
    Der Bruchteil einer Sekunde, den ich brauchte, um meinen Gesichtsausdruck wieder in den Griff zu kriegen, gewährte ihm wohl einen Blick ins Herz meiner Verwirrung.
    »Aber das ist ja eine wunderbare Neuigkeit. Wer ist –«
    »Sie ist nicht beim MI 5. Ruth ist Ärztin im Guy’s Hospital. Unsere Familien sind schon seit Ewigkeiten befreundet.«
    Die Worte entschlüpften mir. »Eine arrangierte Ehe!«
    Max lachte nur schüchtern und schien sogar ein wenig rot zu werden, es war schwer zu erkennen in dem gelblichen Licht. Also lag ich vielleicht richtig, und die Eltern, die sein Studienfach ausgesucht hatten, die nicht wollten, dass er mit den Händen arbeitete, hatten ihm auch seine Frau ausgesucht. Ich musste daran denken, wie verletzlich ich ihn schon erlebt hatte, und da spürte ich den ersten [191] Anflug von Schmerz. Ich hatte es vergeigt. Selbstmitleid überkam mich. Die Leute sagten mir immer wieder, ich sei schön, und ich glaubte ihnen. Eigentlich hätte ich mit jener besonderen Gnade der Schönheit durchs Leben schweben sollen und reihenweise Männern den Kopf verdrehen. Stattdessen ließen sie mich sitzen oder starben mir weg. Oder heirateten.
    Max

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