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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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wurden, bildete ich mir ein, dass er mich längst durchschaut hatte, aber sich nichts anmerken lassen wollte. Ich sollte meine kleine Nummer abspulen, damit er einmal eine Lügnerin aus nächster Nähe beobachten konnte. Zur späteren Verwendung in einer seiner Geschichten. Entsetzt schob ich diese Vorstellung beiseite. Ich musste mich konzentrieren. Als Nächstes erzählte ich, woher die Stiftung ihr Geld hatte. Max war der Ansicht gewesen, Haley müsse von den enormen Mitteln erfahren, über die ›Freedom International‹ verfügte. Das Geld stammte von der kunstbegeisterten Witwe eines Bulgaren, der in die USA emigriert war und in den zwanziger und dreißiger Jahren durch Erwerb und Verwertung von Patenten ein Vermögen gemacht hatte. Nach seinem Tod hatte die Witwe im zerstörten Nachkriegseuropa [203] impressionistische Gemälde zu Vorkriegspreisen aufgekauft. Im letzten Jahr ihres Lebens war sie in den Bann eines kulturbeflissenen Politikers geraten, der sich zu der Zeit mit Plänen für eine Stiftung trug. Und diesem seinem Projekt vermachte sie ihr Vermögen und das ihres Mannes.
    Bis hierher hatten alle meine Ausführungen der Wahrheit entsprochen und ließen sich leicht nachprüfen. Jetzt tat ich den ersten vorsichtigen Schritt in die Lüge. »Ich will ganz offen zu Ihnen sein«, sagte ich. »Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ›Freedom International‹ zu wenig Projekte für das viele Geld.«
    »Wie schmeichelhaft für mich«, sagte Haley. Vielleicht sah er, wie ich errötete, denn er fügte hinzu: »Das war nicht unhöflich gemeint.«
    »Sie verstehen mich falsch, Mr. Haley…«
    »Tom.«
    »Tom. Entschuldigen Sie. Ich habe mich schlecht ausgedrückt. Ich wollte sagen: Es gibt jede Menge Künstler, die von infamen Regimes eingesperrt und unterdrückt werden. Wir bemühen uns nach Kräften, diesen Leuten zu helfen und ihr Werk bekannt zu machen. Aber dass ein Schriftsteller oder Bildhauer zensiert wird, bedeutet natürlich noch lange nicht, dass er auch etwas taugt. Zum Beispiel unterstützen wir einen grottenschlechten polnischen Theaterautor, weil seine Stücke in seiner Heimat nicht aufgeführt werden dürfen. Und wir werden ihn auch weiterhin unterstützen. Wir haben einem inhaftierten abstrakten Impressionisten in Ungarn haufenweise stümperhafte Bilder abgekauft. Jedenfalls hat das Präsidium der Stiftung beschlossen, das Portfolio zu erweitern. Wir möchten Exzellenz [204] fördern, wo immer wir sie finden, ob unterdrückt oder nicht. Unser besonderes Interesse gilt jungen Leuten am Anfang ihrer Karriere…«
    »Und wie alt sind Sie, Serena?« Tom Haley beugte sich besorgt nach vorn, als erkundige er sich nach einer schlimmen Krankheit.
    Ich sagte es ihm. Die Frage sollte mir deutlich machen, dass er sich nicht herablassend behandeln ließ. Tatsächlich war ich in meiner Nervosität in einen distanzierten, amtlichen Ton verfallen. Ich musste lockerer werden, weniger wichtigtuerisch, ich musste ihn mit Tom anreden. Mir wurde klar, dass ich kein Talent für so was hatte. Er fragte, ob ich studiert habe. Ich bejahte und nannte den Namen meines Colleges.
    »Welches Fach?«
    Ich zögerte, verhaspelte mich. Mit der Frage hatte ich nicht gerechnet, und plötzlich kam Mathematik mir suspekt vor. Ohne zu wissen, was ich tat, antwortete ich: »Anglistik.«
    Er lächelte, offenbar erfreut, eine Gemeinsamkeit zu entdecken. »Ich nehme an, Sie haben einen hervorragenden Abschluss gemacht?«
    »Eine Zwei.« Ich wusste nicht, was ich sagte. Eine Drei klang beschämend, und eine Eins hätte mich in die Bredouille bringen können. Ich hatte zweimal unnötig gelogen. Ganz schlecht. Wahrscheinlich ließ sich durch einen einzigen Anruf in Newnham feststellen, dass dort niemals eine Serena Frome Anglistik studiert hatte. Auf solche Fragen war ich nicht gefasst gewesen. Nicht einmal auf die simpelsten Dinge war ich vorbereitet. Warum hatte Max nicht [205] daran gedacht, mit mir eine wasserdichte Legende auszuarbeiten? Ich verlor die Nerven und begann zu schwitzen, ich sah mich schon wortlos aufspringen, meine Tasche schnappen und aus dem Zimmer laufen.
    Tom blickte mich auf seine eigentümliche Weise an, freundlich und ironisch zugleich. »Sie haben bestimmt mit einer Eins gerechnet. Aber ich sage Ihnen, eine Zwei ist auch nicht zu verachten.«
    »Ich war schon enttäuscht«, sagte ich und kam wieder ein wenig zu mir. »Es gab da, hm, so einen allgemeinen…«
    »Erwartungsdruck?«
    Unsere Blicke verhakten sich

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