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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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war die Schulhofwährung, und die Lehrer, auch der Direktor, sind verwirrt. Einerseits werten sie diese aufrührerische Stimmung als Beleg für ebendie Freiheit und Kreativität, die sie den Schülern vermitteln sollen, andererseits wissen sie, dass hier weder gelehrt noch gelernt wird und die Schule vor die Hunde geht. Die »Sechziger«, was auch immer das war, sind in einer unheilvollen neuen Verkleidung in dieses Jahrzehnt eingedrungen. Dieselben Drogen, die der Mittelschicht-Jugend angeblich Frieden und Erleuchtung bringen sollten, schmälerten jetzt die Aufstiegschancen der armen städtischen Unterschicht. Fünfzehnjährige kommen bekifft oder betrunken oder beides in Sebastians Unterricht. Noch Jüngere haben auf dem Schulhof LSD geschluckt und müssen nach Hause geschickt werden. Ehemalige Schüler verkaufen Drogen vor den Schultoren, stehen da ungeniert mit ihrer Handelsware neben den Müttern und ihren Kinderwagen. Der Direktor ist ratlos, alle sind ratlos.
    Abends ist Sebastian oft heiser, weil er tagsüber in der Schule so viel schreien musste. Sein einziger Trost ist es, [221] langsam zu Fuß nach Hause zu gehen, da kann er, auf dem Weg von dem einen trostlosen Ort zum anderen, mit seinen Gedanken allein sein. Zum Glück besucht Monica viermal die Woche Abendkurse – Yoga, Deutsch, Angelologie. Wenn sie da ist, weichen sie einander wortlos aus, und wenn sie doch einmal reden, dann ausschließlich über Haushaltsdinge. Er schläft im Gästezimmer, den Kindern erklärt er, bei seinem Schnarchen könne Mummy nicht schlafen. Er wäre bereit, seine Arbeit aufzugeben, damit sie wieder arbeiten kann. Aber er kann nicht vergessen, dass sie ihn für fähig hält, die Weihnachtsgeschenke seiner Kinder zu vertrinken. Und dann auch noch zu lügen. Offenbar liegt das eigentliche Problem viel tiefer. Sie haben das Vertrauen zueinander verloren, ihre Ehe steht auf der Kippe. Der von ihr vorgeschlagene Rollentausch wäre rein kosmetisch. Der Gedanke an Scheidung erfüllt ihn mit Entsetzen. All das Gezänk, all der Stumpfsinn, den das zur Folge hätte! Wie konnten sie Naomi und Jake so viel Schmerz und Kummer zumuten? Er und Monica müssen eine Lösung finden, das ist ihre Verantwortung. Aber er weiß nicht, wo er anfangen soll. Jedes Mal, wenn er an diesen Burschen und das Küchenmesser in seiner Hand denkt, kehrt der alte Zorn zurück. Monicas Weigerung, ihm zu glauben, hat ein lebenswichtiges Band zerrissen, sie erscheint ihm als ungeheurer Verrat.
    Und dann das Geld: Nie ist genug Geld da. Im Januar braucht ihr zwölf Jahre altes Auto eine neue Kupplung. Dies wiederum verzögert die Rückzahlung an Monicas Bruder – die Schuld wird erst Anfang März beglichen. Eine Woche später sitzt Sebastian mittags im Lehrerzimmer, als [222] die Schulsekretärin zu ihm tritt. Seine Frau sei am Telefon und müsse ihn dringend sprechen. Vor Angst war ihm speiübel, als er ins Sekretariat lief. Noch nie zuvor hatte sie ihn in der Schule angerufen, es konnten nur schlimme Neuigkeiten sein, vielleicht war etwas mit Naomi oder Jake passiert. Zu seiner nicht geringen Erleichterung erzählt sie ihm aber nur, am Vormittag sei im Haus eingebrochen worden. Nachdem sie die Kinder weggebracht hatte, war sie zu ihrem Arzttermin und anschließend einkaufen gegangen. Als sie zurückkam, stand die Haustür halb offen. Der Einbrecher hatte sich hinten in den Garten geschlichen, dort eine Scheibe eingeschlagen und die Verriegelung geöffnet, war durchs Fenster gestiegen, hatte alle möglichen Sachen zusammengerafft und das Haus durch die Vordertür verlassen. Was für Sachen? Sie zählte alles tonlos auf. Seine kostbare 1930er Rolleiflex, vor Jahren von dem Preisgeld gekauft, das er bei einem Französischwettbewerb in Manchester gewonnen hatte. Dann ihr Transistorradio, sein Leica-Fernglas und ihr Föhn. Sie hält kurz inne, dann teilt sie ihm in demselben Ton mit, dass auch seine gesamte Kletterausrüstung verschwunden ist.
    An dieser Stelle muss er sich setzen. Die Sekretärin, die bis dahin neben ihm gestanden hat, verlässt taktvoll das Büro und schließt die Tür. So viele gute Stücke, im Lauf der Jahre geduldig angesammelt, so vieles von Erinnerungswert, darunter ein Seil, mit dem er bei einem Abstieg während eines Sturms in den Anden einem Freund das Leben gerettet hatte. Selbst wenn die Versicherung für den gesamten Schaden aufkommt, was Sebastian bezweifelt, wird er seine Bergsteigerausrüstung nie mehr ersetzen. Zu viele [223]

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