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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Backofentür und gerät in Wallung ob der simplen, erregenden Logik: Wenn es gleich Essen gibt, wenn sie gemeinsam essen, gibt es anschließend Sex.
    Als er nach unten kommt, ist ihr kleines Wohnzimmer hübsch hergerichtet, das übliche Gerümpel vom Esstisch geräumt, Kerzen brennen. Art Blakey auf dem Plattenteller, auf dem Tisch eine Flasche Wein und ein Brathähnchen im Römertopf. Als er an den Polizeifilm dachte – seine Gedanken kehrten ständig dorthin zurück –, hasste er sie. Als sie, frisch umgezogen, mit zwei Weingläsern aus der Küche kam, begehrte er sie. Was jetzt fehlt, ist Liebe, oder die schuldbewusste Erinnerung daran, oder das Bedürfnis danach, und das ist eine Befreiung. Sie ist zu einer anderen Frau geworden, verschlagen, hinterhältig, lieblos, geradezu grausam, und bald wird er mit ihr ins Bett gehen.
    Während des Abendessens verlieren sie kein Wort über das Unbehagen, das ihre Ehe seit Monaten erstickt. Sie reden nicht einmal, wie sonst so oft, über die Kinder. Stattdessen reden sie über gelungene Familienferien in der Vergangenheit und über Reisen, die sie mit den Kindern unternehmen werden, wenn Jake ein wenig älter ist. Das alles [229] ist verlogen, nichts davon wird je geschehen. Dann sprachen sie über Politik, über die Streiks und den Ausnahmezustand und das allgemeine Gefühl im Parlament, in den Städten, in der Selbstwahrnehmung des Landes, kurz vor einer Katastrophe zu stehen – sie sprachen von allen möglichen Katastrophen, nur nicht von der eigenen. Er beobachtet sie beim Sprechen genau und weiß, dass jedes ihrer Worte eine Lüge ist. Findet sie es nicht ebenso merkwürdig wie er, dass sie nach all diesem Schweigen jetzt so tun, als sei nichts geschehen? Sie baut darauf, dass Sex alles ins Lot bringt. Er begehrt sie nur umso mehr. Und sogar noch mehr, als sie beiläufig nach dem Versicherungsfall fragt und sich besorgt zeigt. Erstaunlich. Was für eine grandiose Schauspielerin. Es war, als sei sie allein und er beobachte sie durch ein Loch in der Wand. Er hat nicht vor, sie zur Rede zu stellen. Denn dann käme es garantiert zum Streit. Sie würde alles leugnen oder behaupten, ihre finanzielle Abhängigkeit zwinge sie zu verzweifelten Maßnahmen. Und er würde darauf hinweisen müssen, dass alle ihre Konten auf sie beide lauten und er genauso wenig Geld hat wie sie. So aber werden sie miteinander schlafen, und zumindest er wird wissen, dass es das allerletzte Mal ist. Er würde mit einer Lügnerin und Diebin ins Bett gehen, mit einer Frau, die er niemals richtig kennenlernen würde. Und sie wiederum würde sich einreden, dass sie mit einem Lügner und Dieb ins Bett ging. Und zwar im Geiste der Vergebung.
    Meiner Meinung nach verweilte Tom Haley zu lange bei diesem Abschiedshähnchenessen, das mir jetzt, beim Wiederlesen, besonders langatmig vorkam. Welches Gemüse sie aßen oder dass es sich bei dem Wein um einen [230] Burgunder handelte, musste ich nicht wissen. Mein Zug näherte sich bereits Clapham Junction, als ich weiterblätterte, um den Schluss zu finden. Vielleicht schenkte ich ihn mir diesmal aber auch komplett. Ich beanspruchte keinerlei Raffinement – ich war eine unbedarfte Leserin und neigte von meinem Naturell her dazu, Sebastian mit Tom gleichzusetzen. Ich nahm an, Tom habe seine sexuelle Leistungsfähigkeit ebenso wie seine sexuellen Ängste auf Sebastian übertragen. Ich wurde unruhig, sooft eine seiner Männergestalten mit einer Frau intim wurde, mit einer anderen Frau. Aber ich war auch neugierig, ich wollte dabei zusehen. Wenn Monica hinterhältig und durchgeknallt war (was sollte das mit diesem Angelologie-Kurs?), so hatte Sebastian etwas Dumpfes und Dunkles. Sein Entschluss, seine Frau nicht zur Rede zu stellen, mochte rohe Machtausübung zu sexuellen Zwecken bedeuten oder schlicht Feigheit – die typisch englische Neigung, Szenen um jeden Preis vermeiden zu wollen. Auf Tom warf das kein gutes Licht.
    Jahrelange eheliche Routine hat den Vorgang optimiert, Ruckzuck lagen sie nackt auf dem Bett . Sie sind lange genug verheiratet, um die Bedürfnisse des anderen gründlich zu kennen, und die Wochen der Kälte und Enthaltsamkeit, die nun zu Ende gehen, tun sicher das Ihre, sind aber allein keine Erklärung für die Leidenschaft, die sie jetzt überwältigt. Ihre gewohnten kameradschaftlichen Rhythmen gingen über Bord . Sie sind ausgehungert, wild, zügellos und laut. Einmal stößt die kleine Naomi im Zimmer nebenan im Schlaf einen Schrei aus,

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