Honig
gestreichelt hätte? Wahrscheinlich schon. Konnte die Berührung mit dem Daumen rein zufällig gewesen sein? Ausgeschlossen. Er hatte mir damit gesagt: Bleib. Aber als der Zug hielt, rührte ich mich nicht von der Stelle. Ich traute mir nicht. Denk dran, was passiert ist, dachte ich, als du dich Max an den Hals geworfen hast.
Sebastian Morel ist Französischlehrer an einer großen Gesamtschule in Tufnell Park, im Norden Londons. Er und seine Frau Monica haben zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen im Alter von sieben und vier Jahren, und wohnen in einem gemieteten Reihenhaus am Finsbury Park. Sebastians Arbeit ist hart, sinnlos und schlecht bezahlt, die Schüler sind frech und ungezogen. Manche Tage verbringt er nur mit dem vergeblichen Versuch, für Ordnung zu sorgen, und verhängt Strafen, an die er selbst nicht glaubt. Er staunt immer wieder, wie irrelevant sein Fach für das Leben dieser Kinder ist. Er wollte sie mögen, doch ihre Unwissenheit und Aggressivität widerten ihn an, ihre Häme und ihre Schikanen gegenüber jedem aus ihren Reihen, der es wagte, etwas lernen zu wollen. Fast alle werden die Schule verlassen, sobald sie können, und dann werden sie Hilfsarbeiter oder schwanger oder begnügen sich mit dem, was sie vom Sozialamt kriegen. Er möchte ihnen helfen. Manchmal tun sie ihm leid, manchmal kann er seine Verachtung kaum für sich behalten.
Er ist Anfang dreißig, ein drahtiger, starker Mann. Zu seinen Studienzeiten in Manchester war Sebastian begeisterter Bergsteiger gewesen und hatte Expeditionen in [216] Norwegen, Chile und Österreich geleitet. Aber inzwischen kommt er nicht mehr in die Berge, sein Leben wird von Zwängen beherrscht, es fehlt das Geld, es fehlt die Zeit, die Stimmung ist gedrückt. Seine Kletterausrüstung war in Leinentaschen in einem Schrank unter der Treppe verstaut, hinter Staubsauger, Schrubbern und Eimern. Ständig gibt es Geldsorgen. Monica hat früher als Grundschullehrerin gearbeitet. Jetzt kümmert sie sich um den Haushalt und die Kinder. Sie macht das gut, sie ist eine liebevolle Mutter, die Kinder sind entzückend, aber auch Monica hat Anfälle von Unruhe und Frustration, die denen Sebastians in nichts nachstehen. Die Miete für das kleine Haus in der heruntergekommenen Straße ist unverschämt hoch, ihre Ehe öde nach neun Jahren voller Sorgen und harter Arbeit, das Einerlei gelegentlich unterbrochen von einem Streit – meist um Geld.
Eines dunklen Spätnachmittags im Dezember, drei Tage vor den Schulferien, wird Sebastian auf der Straße überfallen. Über Mittag war er auf Monicas Bitte hin bei der Bank und hat siebzig Pfund von ihrem gemeinsamen Konto abgehoben, damit sie Geschenke und Weihnachtsplätzchen kaufen kann. Das sind fast ihre gesamten Ersparnisse. Schon biegt er in seine Straße ein, die schmal und schlecht beleuchtet ist, nur noch hundert Meter trennen ihn von seiner Haustür, da hört er Schritte hinter sich, und jemand klopft ihm auf die Schulter. Er dreht sich um, und vor ihm stand ein karibischer Junge von etwa sechzehn Jahren, in einer Hand ein Küchenmesser, ein großes Ding mit Wellenschliff. Ein paar Sekunden lang standen sie so da, keinen Meter voneinander entfernt, und starrten sich schweigend [217] an. Was Sebastian beunruhigt, ist die Aufgeregtheit des Jungen, die zitternde Hand mit dem Messer, die Panik in seinem Gesicht. Das Ganze könnte leicht außer Kontrolle geraten. Mit leiser, bebender Stimme verlangt der Junge sein Portemonnaie. Sebastian greift langsam in die Innentasche seines Mantels. Er ist drauf und dran, die Weihnachtsgeschenke seiner Kinder wegzugeben. Er weiß, er ist stärker als der Junge, und während er ihm das Portemonnaie hinhält, überlegt er, ihm einen Schlag auf die Nase zu verpassen und das Messer zu entreißen.
Aber Sebastian hält sich zurück, und nicht nur, weil der Junge so aufgeregt ist. Im Lehrerzimmer herrschte die Meinung, die Ursachen von Verbrechen, insbesondere von Einbrüchen und Überfällen, seien in sozialer Ungerechtigkeit zu suchen. Diebe sind arm, und da sie im Leben nie eine wirkliche Chance bekommen haben, kann man es ihnen kaum verübeln, wenn sie sich nehmen, was ihnen nicht gehört. Sebastian teilt diese Meinung, obwohl er nie groß darüber nachgedacht hat. Im Grunde ist es keine Meinung, sondern eine allgemeine Atmosphäre der Toleranz, in der sich anständige, gebildete Leute bewegen. Diejenigen, die sich über zunehmende Kriminalität beklagen, beklagen sich auch über
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