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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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zugeknöpft, selbst wenn wir tratschten und einander neckten.
    Meine Abende waren jetzt öde. Ich kam von der Arbeit nach Hause, holte aus »meiner« Ecke des Kühlschranks Esswaren heraus und kochte mir etwas, saß, falls die Anwältinnen mal da waren, ein wenig mit ihnen zusammen, ging dann in mein Zimmer, las in dem klobigen kleinen Sessel bis um elf und legte mich schlafen. In diesem Oktober fesselten mich die Kurzgeschichten von William Trevor. Die Beengtheit, in der seine Figuren lebten, ließ mich grübeln, wie mein eigenes Dasein in seiner Beschreibung aussehen würde. Eine junge Frau, allein in ihrem möblierten Zimmer; sie wäscht sich die Haare im Waschbecken und träumt vor sich hin, denkt an einen Mann aus Brighton, der sich nicht meldet, an ihre beste Freundin, die aus ihrem Leben verschwunden ist, an einen anderen Mann, in den sie mal verknallt war und der ihr morgen, wenn sie ihn beruflich treffen muss, von seinen Hochzeitsvorbereitungen erzählen wird. Wie grau, wie traurig.
    Eine Woche nach meinem Besuch bei Haley ging ich, [235] den Kopf voller törichter Hoffnungen und zurechtgelegter Entschuldigungen, von Camden zu Fuß zur Holloway Road. Aber Shirley war aus ihrem Zimmer ausgezogen und hatte keine Adresse hinterlassen. Diejenige ihrer Eltern in Ilford kannte ich nicht, und im Büro wollte man sie mir nicht geben. Ich fand Bedworld in den Gelben Seiten und sprach mit einem wenig entgegenkommenden Verkäufer. Mr. Shilling könne nicht ans Telefon kommen, seine Tochter arbeite nicht im Betrieb und sei vielleicht zu Hause oder auch nicht. Einen Brief könne man ihr vielleicht weiterleiten, vielleicht auch nicht. Ich schrieb eine Postkarte, gespielt munter, als sei nichts zwischen uns geschehen. Ich bat sie, sich bei mir zu melden. Mit einer Antwort rechnete ich nicht.
    Ich sollte Max am ersten Tag nach seinem Urlaub treffen. Der Weg zur Arbeit war an diesem Morgen eine Tortur. Nicht nur für mich. Der Großstadtregen prasselte so ausdauernd und erbarmungslos nieder, als wolle er damit zu verstehen geben, es könne noch wochenlang so weitergehen. Auf der Victoria-Linie der U-Bahn gab es einen Bombenalarm. Die Provisorische IRA hatte bei einer Zeitung angerufen und ein bestimmtes Codewort genannt. Also ging ich die letzte Meile zu Fuß, vorbei an aussichtslos langen Warteschlangen vor den Bushaltestellen. Der Stoff meines Schirms hatte sich teilweise von den Speichen gelöst, ich sah aus wie Chaplins Tramp. Durch Risse im Leder meiner Pumps drang Feuchtigkeit ein. Sämtliche Zeitungen an den Kiosken hatten die OPEC und ihren »Ölpreisschock« auf der Titelseite. Der Westen wurde für seine Unterstützung Israels mit einer saftigen Preiserhöhung bestraft. Es [236] gab ein Embargo gegen Ölexporte in die USA . Die Führer der Bergarbeitergewerkschaft trafen sich zu einer Sondersitzung, um zu besprechen, wie sie die Situation am besten ausnutzen konnten. Wir waren dem Untergang geweiht. Der Himmel verfinsterte sich über den Massen von Menschen, die sich in Regenmänteln durch die Conduit Street schoben, bemüht, einander mit ihren Regenschirmen nicht die Augen auszustechen. Es war erst Oktober und nur noch knapp über null Grad – ein Vorgeschmack auf den langen Winter, der vor uns lag. Ich erinnerte mich bedrückt an den Vortrag, den ich mit Shirley besucht hatte, alle Unkenrufe des Brigadiers bewahrheiteten sich. Als ich an die vorwurfsvollen Blicke und meine Blamage dachte, flackerte meine alte Wut wieder auf, und meine Laune verfinsterte sich noch mehr. Shirley hatte nur so getan, als wäre sie meine Freundin, und ich war prompt darauf reingefallen, ich war für diesen Job wirklich nicht geeignet. Ich wollte nur noch zurück in mein durchgelegenes Bett und meinen Kopf unters Kissen stecken.
    Obwohl ich schon spät dran war, sah ich noch kurz beim Postfach nach, bevor ich im Laufschritt um die Ecke zum Leconfield House bog. In der Damentoilette versuchte ich eine Viertelstunde lang, an der Handtuchrolle meine Haare zu trocknen und die Spritzflecken von meiner Strumpfhose zu reiben. Max war für mich verloren, aber hier ging es um meine Würde. Als ich mich mit zehn Minuten Verspätung in sein dreieckiges Büro zwängte, waren meine Füße immer noch nass und eiskalt. Er saß hinter seinem Schreibtisch und ordnete betont geschäftig seine Papiere. Sah er anders aus, nach einer Woche Taormina und Sex mit Dr. Ruth? Er war [237] beim Friseur gewesen, seine Ohren standen jetzt wieder ab wie Henkel von

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