Honig
ein reines, silberhelles Wimmern in der Dunkelheit, das sie anfangs einer Katze zuschrieben. Das Paar erstarrt und wartet, dass das Kind sich beruhigt.
[231] Die letzten Zeilen von Racheakte ließen die beiden Hauptfiguren in schwindelerregender Höhe zurück, auf dem Gipfel der Ekstase. Das kommende Elend war schon spürbar, aber jenseits der Erzählung. Das Schlimmste blieb dem Leser erspart.
Das Wimmern klang so trostlos und kalt, dass ihm war, als habe seine Tochter im Traum die unausweichliche Zukunft gesehen, all den Kummer und all die Verwirrungen, die ihnen bevorstanden, und vor Entsetzen wurde er schlaff. Aber es ging vorüber, und bald sanken Sebastian und Monica wieder hin, oder sie stiegen auf, denn der Raum, durch den sie schwammen oder stürzten, schien keine physischen Dimensionen zu haben, nur Gefühl gab es hier, nur Lust, so konzentriert, so scharf gebündelt, dass es fast weh tat.
[232] 13
Als ich ins Büro zurückkam, war Max im Urlaub, eine Woche Taormina mit seiner Verlobten, deshalb musste die Einsatzbesprechung erst einmal verschoben werden. Ich lebte in einer Art Schwebezustand. Es wurde Freitag, und noch immer hatte ich nichts von Tom Haley gehört. Falls er an diesem Tag die Stiftung in der Upper Regent Street aufgesucht hatte, sagte ich mir, hatte er sich wohl explizit dagegen entschieden, mich zu sehen. Am Montag holte ich einen Brief aus einem Postfach in der Park Lane. Eine Sekretärin von ›Freedom International‹ teilte mir mit, Mr. Haley sei am Freitagvormittag gekommen und eine Stunde geblieben, habe viele Fragen gestellt und sich von der Arbeit der Stiftung beeindruckt gezeigt. Das hätte mir Mut machen sollen, und bis zu einem gewissen Grad tat es das auch. In erster Linie aber fühlte ich mich übergangen. Haleys Daumennummer, befand ich, war ein Reflex, eine Anmache, die er bei jeder Frau probierte, wenn er sich Chancen ausrechnete. Schmollend malte ich mir Rachephantasien aus: Haley sagte mir endlich, dass er das Geld der Stiftung anzunehmen geruhe, und dann machte ich seine Chancen zunichte und erzählte Max, er habe abgelehnt und wir müssten uns nach jemand anderem umsehen.
Im Büro gab es nur ein Thema, den Krieg im Nahen [233] Osten. Selbst das leichtsinnigste Partygirl unter den Sekretärinnen war gebannt von den dramatischen Ereignissen. Jetzt, raunten manche, wo sich die Amerikaner hinter Israel stellten und die Sowjets hinter Ägypten, Syrien und die Palästinenser, komme es zu genau der Art von Stellvertreterkrieg, die uns an den Rand eines atomaren Schlagabtausches bringen könnte. Eine neue Kubakrise! In unserem Korridor wurde eine Weltkarte aufgehängt, kleine Plastikperlen auf Stecknadeln stellten die feindlichen Divisionen dar und Pfeile deren aktuelle Bewegungen. Die Israelis, erst noch ganz benommen von dem Überraschungsangriff an Yom Kippur, mobilisierten allmählich ihre Kräfte, die Ägypter und Syrer machten ein paar taktische Fehler, die USA belieferten ihren Verbündeten aus der Luft mit Waffen, Moskau stieß Drohungen aus. Das alles hätte mich eigentlich stärker bewegen, dem Alltag mehr akute Spannung verleihen müssen. Der Zivilisation drohte ein Atomkrieg, und ich grübelte über einen Fremden nach, der mit seinem Daumen meine Handfläche gestreichelt hatte. Monströser Solipsismus.
Aber ich dachte nicht nur an Tom. Ich machte mir auch Sorgen um Shirley. Seit dem Bees-Make-Honey-Konzert waren sechs Wochen vergangen. An einem Freitag hatte sie ihren Schreibtisch in der Registratur geräumt, ohne sich von irgendwem zu verabschieden. Drei Tage später hatte eine Neue ihren Platz eingenommen. Einige der Mädchen, die einst missgünstig Shirleys Beförderung prophezeit hatten, behaupteten jetzt, man habe sie entlassen, weil sie keine von uns sei. Ich war zu wütend auf meine alte Freundin gewesen, um mich bei ihr zu melden. Anfangs war ich [234] erleichtert, dass sie sich ohne viel Aufhebens davongeschlichen hatte. Aber im Lauf der Wochen verblasste das Gefühl, von ihr verraten worden zu sein. Bald wurde mir klar, dass ich an ihrer Stelle dasselbe getan hätte. Vielleicht sogar noch bereitwilliger, bei meinem Hunger nach Anerkennung. Vermutlich hatte sie sich ohnehin geirrt, und ich wurde gar nicht verfolgt. Aber sie fehlte mir, ihr lautes Lachen, ihre schwere Hand auf meinem Handgelenk, wenn sie mir etwas anvertrauen wollte, ihre unbekümmerte Begeisterung für Rockmusik. Verglichen mit ihr waren wir in der Abteilung alle schüchtern und
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