Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
trostloser ist das Bild, als Vater und [280] Tochter nach London kommen. Im Chaos verfallender Wolkenkratzer, rostiger Autos und unbewohnbarer Straßenzüge, in denen es von Ratten und wilden Hunden wimmelt, herrschen Bandenchefs, deren Männer sich die Gesichter mit Primärfarben beschmieren und die verarmte Bevölkerung terrorisieren. Elektrizität gibt es schon lange nicht mehr. Das einzige, was noch ansatzweise funktioniert, ist die Regierung. Eines der Ministerien, ein mächtiges Hochhaus, erhebt sich über einer weiten Ebene von rissigem und unkrautüberwuchertem Beton. Auf dem Weg zu einem Amt, wo sie sich in die Schlange der Wartenden einreihen werden, überqueren Vater und Tochter im Morgengrauen diese Ebene, die übersät ist mit verfaultem und breitgetretenem Gemüse, zu Schlafplätzen flachgedrückten Pappkartons, kalten Feuerstellen und den Kadaverresten gebratener Tauben, verrosteten Dosen, Erbrochenem, abgefahrenen Reifen, giftgrünen Pfützen, Menschen- und Tierkot. Nichts erinnerte mehr an den alten Traum von horizontalen Linien, die sich zu aufstrebendem Stahl und einem lotrechten Glaswürfel bündelten.
    Dieser Platz, auf dem sich der Hauptteil des Romans abspielt, ist der gigantische Mikrokosmos einer traurigen neuen Welt. In seiner Mitte steht ein stillgelegter Brunnen, die Luft darüber ist grau von Fliegen. Täglich kamen die Männer und Jungen dorthin, um sich auf den breiten Betonrand zu hocken und sich zu entleeren. Sie kauerten dort wie federlose Vögel. Später am Tag herrscht auf dem Platz ein Gewimmel wie in einem Ameisenhaufen, die Luft ist voller Rauch, der Lärm ohrenbetäubend, Leute breiten auf bunten Decken ihre kläglichen Waren aus, der Vater feilscht [281] um ein uraltes, gebrauchtes Stück Seife, obwohl frisches Wasser kaum aufzutreiben ist. Alles, was auf dem Platz zum Verkauf angeboten wird, ist vor langer Zeit hergestellt worden, und niemand weiß mehr, wie. Später begegnet der Mann (dessen Namen wir ärgerlicherweise nie erfahren) einer alten Freundin, die ein eigenes Zimmer hat, ein Privileg. Sie ist eine Sammlerin. Auf ihrem Tisch steht ein Telefon, das Kabel nach zehn Zentimetern abgeschnitten, dahinter, an die Wand gelehnt, eine Kathodenstrahlröhre. Das Holzgehäuse des Fernsehers, Bildschirm und Kontrollknöpfe waren längst abgerissen, und Bündel grellbunter Kabel schlängelten sich über das stumpfe Metall. Diese Gegenstände, erzählt sie ihm, liegen ihr am Herzen, weil sie das Werk menschlicher Gestaltungskraft und Erfindungsgabe sind . Und wer sich nicht um Dinge kümmert, der kümmert sich bald auch nicht mehr um Menschen. Er aber hält ihr kleines Museum für sinnlos. Ohne ein Telefonsystem sind Telefone wertloser Müll.
    Die industrielle Zivilisation mit all ihrer Technik und Kultur verschwindet aus dem kollektiven Gedächtnis. Die Menschheit reist rückwärts durch die Zeit, zurück in eine grausame Vergangenheit, wo der ewige Kampf um knappe Ressourcen wenig Spielraum für Freundlichkeit und Erfindungsgeist lässt. Die alten Zeiten sind unwiederbringlich dahin. Ich kann kaum glauben, dass wir es waren, die damals dort gewesen sind, so sehr hat sich alles verändert , sagt die Frau, als sie über ihre gemeinsame Vergangenheit sprechen. Das hier ist es, worauf wir seit jeher zugesteuert sind, sagt ein barfüßiger Philosoph zu dem Vater. An anderer Stelle wird klar, dass der Zusammenbruch der Zivilisation [282] mit den Ungerechtigkeiten, Konflikten und Widersprüchen des zwanzigsten Jahrhunderts begonnen hat.
    Wohin der Mann und das kleine Mädchen eigentlich wollen, erfährt der Leser erst auf den allerletzten Seiten. Sie sind auf der Suche nach seiner Frau, der Mutter des Mädchens. Es gibt weder Kommunikationssysteme noch eine Bürokratie, die ihnen helfen könnten. Das einzige Foto, das sie von ihr besitzen, zeigt sie als Kind. Sie müssen sich durchfragen, folgen vielen falschen Fährten, ihre Suche ist zum Scheitern verurteilt, spätestens, als die beiden an der Beulenpest erkranken. Vater und Tochter sterben Arm in Arm in den Katakomben der verfallenen Zentrale einer ehemals berühmten Bank.
    Nach eineinviertel Stunden war ich mit der Lektüre fertig. Ich legte die Blätter neben die Schreibmaschine zurück, achtete darauf, sie so unordentlich auszubreiten, wie ich sie vorgefunden hatte, schob die Seilrolle beiseite und schloss die Tür. Dann setzte ich mich an den Küchentisch und versuchte, meine verwirrten Gedanken zu ordnen. Ich konnte mir

Weitere Kostenlose Bücher