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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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die Matratze war geräuschlos und fest. Binnen Wochen fühlte ich mich dort zu Hause.
    Das Schlafzimmer war nur wenig größer als das Bett. Die Tür des Kleiderschranks ließ sich gerade mal zwanzig Zentimeter weit öffnen. Man musste einen Arm hineinstrecken und nach den Kleidern tasten. Manchmal weckte mich frühmorgens das Geräusch von Toms Schreibmaschine nebenan. Sein Arbeitszimmer, das auch als Küche und Wohnzimmer diente, wirkte geräumiger. Toms Vermieter, ein ehrgeiziger Handwerker, hatte die Decke entfernt, so dass man die Dachsparren sah. Das ungleichmäßige Klappern der Tasten und die Schreie der Möwen – ich erwachte zu [275] diesen Geräuschen, hielt die Augen geschlossen und schwelgte in der Verwandlung, die mein Leben erfahren hatte. Wie einsam war ich in Camden gewesen, besonders seit Shirleys Verschwinden. Wie ich das genoss, wenn ich nach einer anstrengenden Woche freitags um sieben aus dem Zug stieg und im Schein der Straßenlaternen die paar hundert Meter den Hügel hinaufging; ich roch das Meer, Brighton kam mir von London so weit weg vor wie Nizza oder Neapel, und ich wusste, Tom hatte eine Flasche Wein in seinem winzigen Kühlschrank und die Gläser schon auf dem Tisch. Unsere Wochenenden waren einfach. Wir liebten uns, wir lasen, wir gingen am Meer und manchmal im Hinterland spazieren, wir aßen in Restaurants – meist in den Lanes, der Altstadt von Brighton. Und Tom schrieb.
    Er hatte eine Reiseschreibmaschine, eine Olivetti, die auf dem grünen Filz eines Kartentisches in der Zimmerecke stand. Nachts oder im Morgengrauen schlich er dorthin, arbeitete bis gegen neun und kam anschließend wieder ins Bett. Wir liebten uns, und er schlief dann bis Mittag, während ich mir am Open Market ein Frühstück mit Kaffee und Croissant genehmigte. Croissants waren damals in England etwas ganz Neues und machten mir unseren Winkel von Brighton noch exotischer. Ich las die Zeitung von vorn bis hinten – nur den Sportteil ließ ich aus – und ging dann Eier, Speck und Würstchen für unseren Brunch einkaufen.
    Toms Stiftungsgeld traf immer pünktlich ein – wie hätten wir es uns sonst leisten können, bei Wheeler’s zu essen und den Kühlschrank mit Chablis zu füllen? In diesem November und Dezember gab Tom seine letzten Seminare und arbeitete an zwei Erzählungen. Er hatte in London [276] den Dichter und Herausgeber Ian Hamilton kennengelernt, der gerade dabei war, eine Literaturzeitschrift zu gründen, die New Review . Hamilton bat Tom um einen Beitrag für eine der ersten Nummern. Er hatte alles gelesen, was Tom bisher veröffentlicht hatte, und ihm in einer Kneipe in Soho gesagt, er finde die Sachen »ganz gut« oder »nicht schlecht« – anscheinend ein hohes Lob aus seinem Munde.
    Selbstgefällig, wie frisch Verliebte sind, hatten wir uns in einen Kokon aus intimen Gewohnheiten, Redewendungen und Fetischen eingesponnen, und unsere Samstagabende folgten einem festen Muster. Oft liebten wir uns am frühen Abend – unsere »Hauptmahlzeit«. Das frühmorgendliche »Kuscheln« zählte nicht richtig. In postkoitaler Euphorie und Klarheit zogen wir uns für den Abend an und leerten, bevor wir die Wohnung verließen, fast eine Flasche Chablis. Etwas anderes tranken wir zu Hause nicht, auch wenn wir beide von Wein nicht die geringste Ahnung hatten. Wir hatten uns aus Witz dafür entschieden, anscheinend trank James Bond gerne Chablis. Tom ließ auf seiner neuen Stereoanlage Musik laufen, meist Bebop, für meine Ohren ein unrhythmischer Schwall zufälliger Töne, aber es klang irgendwie schick und großstädtisch. Dann traten wir in die eisige Seeluft hinaus und schlenderten den Hügel hinunter zu den Lanes, meist zum Fischrestaurant Wheeler’s. Tom hatte den Kellnern in halbbetrunkenem Zustand oft schon saftige Trinkgelder gegeben, so dass wir stets überschwenglich begrüßt und an »unseren« Tisch an der Seite geführt wurden, von dem aus wir die anderen Gäste gut beobachten und bespötteln konnten. Vermutlich waren wir [277] unausstehlich. Als Vorspeise ließen wir uns immer demonstrativ »das Übliche« auftragen – zwei Gläser Champagner und ein Dutzend Austern. Ich bin mir nicht sicher, ob sie uns wirklich schmeckten, aber uns gefiel das Bild: diese uralte Lebensform in den Muschelkalkschalen, im Oval angeordnet mit Petersilie und Zitronenhälften dazwischen, das fürstliche Glitzern des Eisbetts im Kerzenlicht, die silberne Platte, das glänzende Kännchen mit Chilisauce.
    Wenn wir

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