Honig
nicht über uns redeten, dann blieb uns das weite Feld der Politik – die nationale Krise, der Nahe Osten, Vietnam. Eigentlich hätte ein Krieg gegen die Ausbreitung des Kommunismus ambivalentere Gefühle bei uns hervorrufen sollen, aber auch wir vertraten die orthodoxe Ansicht unserer Generation. Das Ganze war mörderisch, grausam und ein offensichtliches Fiasko. Wir verfolgten auch den Watergate-Skandal, diese Seifenoper aus Machtmissbrauch und Torheit; Tom wusste allerdings, wie die meisten Männer, die ich kannte, über die Akteure, die Daten, jede einzelne historische Wendung der Ereignisse und kleinste verfassungsrechtliche Konsequenz so gut Bescheid, dass ich für seine Empörung kaum das richtige Gegenüber war. An sich hätte uns auch das Feld der Literatur zur Verfügung stehen müssen. Er zeigte mir die Gedichte, die er liebte, und das war kein Problem – die gefielen mir auch. Aber es gelang ihm nicht, mich für die Romane von John Hawkes, Barry Hannah oder Williams Gaddis zu begeistern, und meine Heldinnen Margaret Drabble, Fay Weldon und Jennifer Johnston (meine neuste Flamme) ließen ihn kalt. Ich fand seine Idole zu trocken, ihm waren meine zu »triefend«, nur Elizabeth Bowen ließ er allenfalls gelten. [278] Einig waren wir uns in dieser Zeit bloß über einen einzigen, kurzen Roman, von dem er ein gebundenes Rezensionsexemplar besaß, William Kotzwinkles Schwimmer im dunklen Strom . Er fand das Buch wunderbar komponiert, ich fand es weise und traurig.
Er sprach nicht gern über seine Arbeit, bevor sie fertig war. Als er eines Samstagnachmittags zu Recherchen in die Bibliothek ging, hielt ich es daher für vertretbar, wenn nicht gar für meine Pflicht, einmal einen Blick hineinzuwerfen. Ich ließ die Tür offen, damit ich seine Schritte auf der Treppe hören würde. Da gab es eine Geschichte, in einer ersten Fassung Ende November abgeschlossen, die von einem sprechenden Affen erzählt wurde, der sich in sorgenvollen Reflexionen über seine Geliebte ergeht – eine Schriftstellerin, die sich gerade mit ihrem zweiten Roman abmüht. Für ihren ersten hat sie viel Lob eingeheimst. Kann sie noch einen ebenso guten Roman schreiben? Allmählich kommen ihr Zweifel. Der Affe sitzt ihr ständig im Nacken, ungehalten und gekränkt, dass sie ihn wegen ihrer Arbeit vernachlässigt. Erst auf der letzten Seite stellte ich fest, dass es sich bei der Geschichte, die ich las, just um die handelte, die die Schriftstellerin in der Geschichte schreibt. Den Affen gibt es nicht, er ist ein Gespenst, ein Geschöpf ihrer überreizten Phantasie. Nein . Und nochmals nein. Bloß nicht so was. Abgesehen von der grotesken und weithergeholten Sache mit dem Sex zwischen verschiedenen Spezies hegte ich ein instinktives Misstrauen gegen solche literarischen Kniffe. Ich wollte Boden unter den Füßen haben. Meiner Ansicht nach gab es so etwas wie einen ungeschriebenen [279] Vertrag zwischen Leser und Autor, an den der Autor sich zu halten hatte. Kein einziges Element einer erfundenen Welt und keine der Figuren darin durfte sich einfach so, aus einer Schriftstellerlaune heraus, in Luft auflösen. Das Erfundene musste so stabil und in sich widerspruchsfrei sein wie das Wirkliche. Dieser Vertrag war auf gegenseitiges Vertrauen gegründet.
Die erste Geschichte war eine Enttäuschung, die zweite verblüffte mich schon, bevor ich zu lesen anfing. Sie war über hundertvierzig Seiten lang, unter dem letzten Satz stand in Handschrift ein Datum von voriger Woche. Der erste Entwurf eines kurzen Romans, und er hatte mir nichts davon erzählt. Ich wollte mich gerade an die Lektüre machen und fuhr zusammen, als die Wohnungstür mit lautem Knall zuschlug – es zog durch die undichten Fenster. Ich stand auf und klemmte ein zusammengerolltes, öliges Seil in die Tür, mit dem Tom einmal eigenhändig den Kleiderschrank die Treppe hinaufbefördert hatte. Dann machte ich die Lampe an, die von den Dachsparren hing, und begann mit schlechtem Gewissen und in gewohntem Tempo zu lesen.
Aus dem Tiefland von Somerset schilderte die Reise eines Mannes und seiner neunjährigen Tochter durch eine verwüstete Landschaft mit niedergebrannten Dörfern und Städtchen; Ratten, Cholera und Beulenpest wüten überall, das Wasser ist verseucht, Nachbarn kämpfen bis aufs Blut um eine alte Fruchtsaftdose, man schätzt sich glücklich, wenn man zu einem Festmahl eingeladen ist, bei dem ein Hund und ein paar dürre Katzen über offenem Feuer geröstet werden. Noch
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