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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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dem ich mit einem zerstreuten Lächeln lauschte, weil wieder einmal eine [271] Musik in meinem Kopf spielte, diesmal eine Symphonie, ein majestätisch langsamer Satz im erhabenen Stil Gustav Mahlers. In diesem Raum hier, sagte Tom gerade, hätten Ezra Pound und Wyndham Lewis ihre »vortizistische« Zeitschrift Blast gegründet. Die Namen sagten mir gar nichts. Wir gingen zu Fuß von Fitzrovia nach Camden Town zurück, Arm in Arm und betrunken, und redeten Unsinn. Als wir am nächsten Morgen in meinem Zimmer aufwachten, konnte ich bei dem neuen Kartenspiel locker mithalten. Es war die reine Wonne.

[272] 15
    Ende Oktober wurden nach alljährlichem Ritual die Uhren zurückgestellt, der Deckel der Dunkelheit senkte sich noch drückender auf unsere Nachmittage, und die Stimmung der Nation fiel auf einen Tiefpunkt. Der November brachte einen weiteren Kälteeinbruch und fast täglich Regen. Alle sprachen von der »Krise«. Benzin wurde rationiert, die Regierung ließ Bezugsscheine drucken. Das hatte es seit dem letzten Krieg nicht mehr gegeben. Wir steuerten auf etwas Schlimmes zu, so die allgemeine Empfindung, auf etwas Unvorhersehbares und Unvermeidliches.
    Man befürchtete die »Auflösung der gesellschaftlichen Strukturen«, auch wenn niemand wusste, was das genau hieß. Ich aber war glücklich und geschäftig, ich hatte endlich einen Geliebten und versuchte, nicht mehr an Tony zu denken. Meine Wut auf ihn wurde verdrängt oder zumindest überlagert von Schuldgefühlen, denn ich war schon sehr hart mit ihm ins Gericht gegangen. Ich durfte jenes ferne Idyll, unseren edwardianischen Sommer in Suffolk, nicht aus dem Blick verlieren. Seit ich mit Tom zusammen war, fühlte ich mich beschützt und konnte es mir erlauben, unsere gemeinsame Zeit in einem nostalgischen, nicht nur in einem tragischen Licht zu betrachten. Tony mochte [273] sein Land verraten haben, mir aber hatte er zum Start ins Leben verholfen.
    Ich wurde wieder zu einer regelmäßigen Zeitungsleserin. Vor allem die Meinungsseiten faszinierten mich, die Anklagen und Lamentos, die man im Fachjargon, so erfuhr ich, die Warum-nur-Stücke nannte. Zum Beispiel: Warum nur bejubeln Universitätsintellektuelle die Massaker der Provisorischen IRA und romantisieren die Angry Brigade und die Rote-Armee-Fraktion? Das britische Empire, unser Sieg im Zweiten Weltkrieg treiben uns um und beschämen uns Heutige, aber warum nur diese elende Stagnation in den Trümmern unserer großen Vergangenheit? Die Kriminalitätsrate schießt in die Höhe, die allgemeinen Umgangsformen sind im Niedergang, die Straßen verdreckt, Wirtschaft und Moral liegen darnieder, unser Lebensstandard ist unter den der kommunistischen DDR gesunken, wir sind gespalten, zerstritten und bedeutungslos. Unruhestifter träumen von Aufruhr und demontieren unsere demokratischen Traditionen, im Fernsehen wird nur entsetzlich albernes Zeug gezeigt, Farbfernseher sind zu teuer, und alle sind sich einig: Es gibt keine Hoffnung, das Land ist am Ende, unsere Ära in der Geschichte ist vorüber. Warum nur, warum?
    Ich verfolgte auch das deprimierende Tagesgeschehen. Mitte des Monats waren die Ölimporte im Keller. Die staatliche Behörde für den Kohlebergbau hatte den Bergarbeitern eine Lohnerhöhung von 16,5 Prozent angeboten, die aber ergriffen die von der OPEC gebotene Gelegenheit beim Schopf und beharrten auf 35 Prozent. Als Druckmittel hörten sie auf, Überstunden zu leisten. Kinder wurden nach [274] Hause geschickt, weil die Schulen nicht beheizt waren, Straßenlaternen abgeschaltet, um Energie zu sparen, es gab wilde Gerüchte, dass wegen der Stromknappheit alle nur noch drei Tage die Woche arbeiten sollten. Die Regierung rief den fünften Ausnahmezustand aus. Gebt den Bergarbeitern das Geld, sagten die einen, die anderen sagten: Zum Teufel mit den Erpressern. Ich verfolgte das alles und entdeckte, dass ich ein Faible für Ökonomie hatte. Ich kannte die Zahlen, ich kannte mich aus in dieser Krise. Aber sie ließ mich im Grunde kalt. Pik und Helium hielten mich auf Trab, ich versuchte Volt zu vergessen, und mein Herz gehörte Honig, das heißt, meiner privaten Portion davon. So fuhr ich an den Wochenenden von Amts wegen nach Brighton zu Tom, der zuoberst in einem schmalen weißen Haus in der Nähe des Bahnhofs eine Zweizimmerwohnung hatte. Die Häuser in der Clifton Street glichen einer Reihe glasierter Weihnachtstorten, die Luft war sauber, wir waren ungestört, das Bett hatte ein modernes Kiefernholzgestell,

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