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Honigmilch

Honigmilch

Titel: Honigmilch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Mehler
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unwahrscheinlich, oder?«, fragte Fanni zurück.
    »Sehr unwahrscheinlich«, stimmte Leni zu. »Andererseits«, sie grinste, »der erfahrene Kriminalist lässt kein Motiv unüberprüft.«
    Fanni schnitt ihr eine Grimasse und sagte: »Der Impfstoff gegen Kinderlähmung ist doch schon recht früh entdeckt worden. Bald nach dem Krieg, glaube ich.«
    »Hm«, seufzte Leni, »ein langer mit toten Affen gepflasterter Weg aus Versuch und Irrtum hat Anfang der Fünfziger einen inaktivierten Impfstoff hervorgebracht. Leider war das Serum zu schwach, sodass in den USA nach einer der ersten Impfkampagnen eine Epidemie ausbrach. Der eigentliche Durchbruch kam erst Anfang der Sechziger, als der von Albert Sabin entwickelte abgeschwächte Lebendimpfstoff eingesetzt wurde.«
    Leni stockte und starrte ihre Mutter an. »Aber ich dachte …« Sie verstummte.
    »Was?«, insistierte Fanni.
    »Weißt du, Mama«, sagte Leni, »Lebendimpfstoff ist nicht ungefährlich. Die Viren darin sind nicht nur lebens-, sondern auch vermehrungsfähig. Sie werden mit dem Stuhl der geimpften Personen ausgeschieden. Durch Kontaktinfektion könnten sich Ungeimpfte anstecken. Dieser Impfstoff hat es aber geschafft, die Poliomyelitis so gut wie auszurotten.«
    Leni versank für ein paar Augenblicke in Schweigen, dann schlug sie sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Klar«, rief sie, »das ist der Grund! Eben weil das Virus fast ausgerottet ist, kann man es sich heutzutage wieder erlauben, den harmlosen Totimpfstoff zu verwenden. Er bietet zwar keinen hundertprozentigen Schutz, vermeidet aber, dass sich Ungeimpfte bei Geimpften anstecken. Alles eine Sache der Risikominimierung.«
    »Minimierung«, wiederholte Fanni.
    »Ja«, nickte Leni, »völlige Sicherheit wird es nie geben. Viren sind Überlebenskünstler, ein paar schlüpfen immer durch. Und deshalb kann Annabel den Polioerreger irgendwann, irgendwo aufgelesen haben, wenn sie nicht geimpft war.«
    Leni stand auf, stellte die leeren Teller aufeinander und wollte sich eben auf den Weg zur Küche machen, da fiel ihr ein zu fragen: »Woher weißt du eigentlich, dass Annabel mit Polio infiziert war?«
    »Steht im Autopsiebericht«, antwortete Fanni so beiläufig, als kämen Autopsieberichte jeden Morgen mit der Zeitung ins Haus.
    Leni trug die Teller weg und klappte die Spülmaschine auf. Plötzlich lief sie ins Esszimmer zurück.
    »Wie kam denn der Gerichtsmediziner auf den abwegigen Gedanken, bei einer Toten, die durch Genickbruch starb, nach Poliomyelitisviren zu suchen? Dazu hatte er doch überhaupt keinen Grund.«
    Fanni starrte ihre Tochter an. Ja, dachte sie, Leni ist klug. Leni ist aufgeweckt. Leni ist scharfsinnig. Das Professoren-Gen lässt sich nicht verleugnen. Gut, dass sich Hans Rot für noch klüger hält, sonst hätte er längst was gemerkt.
    Bevor sie Leni antworten konnte, sie habe keine Ahnung, weshalb der Gerichtsmediziner auf diese Viren gestoßen war, hörte sie ihren Mann hereinkommen.
    Hans Rot beäugte das restliche Häufchen Spaghetti in der Schüssel und verzog angewidert das Gesicht. »Da hab ich aber Glück gehabt«, meinte er. »Vater Staat hat mir zum Abendessen Schweinshaxe serviert.«
    »Gar nicht dumm von ihm«, murmelte Fanni, »das erspart ihm Rentenzahlungen für mindestes zwei Jahre.«
    Sie stand auf, scheuchte Leni aus der Küche nach oben zu ihrer Doktorarbeit und räumte die Teller in die Spülmaschine.
    »Welches Hemd soll ich morgen zu der grauen Hose anziehen?«, rief Hans Rot aus dem Schlafzimmer.
    Fanni schenkte sich ein Glas Rotwein ein, nahm einen großen Schluck und starrte aus dem Fenster.
    Wer hatte Schneewittchen umgebracht? Und warum? Hatten die Polioviren – Lenis Aussage nach mehrheitlich ausgemerzt – etwas mit der Tat zu tun oder nicht?
    »Welches Hemd, Fanni?«, rief Hans Rot ungehalten.

3
     
    »Sprudel«, sagte Fanni am Mittwochmorgen, als er anrief. »Ich hab eine Menge im Haushalt zu tun, und überdies kommt mein Mann zum Mittagessen nach Hause. Ich kann heute nicht weg. Auch am Nachmittag nicht. Hans macht früher Feierabend. Er will Lenis altes Auto wienern, weil sich zwei Kaufinteressenten gemeldet haben.«
    Und genau das ist der Grund, dachte sie dabei, warum ich Hans Rot alles andere nachsehe. Er kümmert sich mit Vorliebe ums Banale. Und dieser Charakterzug ist an Wert nicht zu unterschätzen.
    »In Ordnung«, sagte Sprudel und bemühte sich hörbar, nicht enttäuscht zu klingen. Fanni war ihm dankbar dafür. Denn das war es, was sie

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