Honigtot (German Edition)
traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Dass es sich wie ein Roman liest, macht die Lektüre allerdings ein wenig leichter für Sie. Haben Sie einen Laptop dabei?“
„Ja.“
„Gut, dann geben Sie mir bitte Ihre Mail-Adresse. Ich schicke Ihnen die Übersetzung als Dokument zu. Wenn ich Ihnen etwas raten darf: Lesen Sie es noch vor Ihrer Mutter und geben Sie mir Bescheid, wenn Sie damit fertig sind. Dann komme ich mit der Übersetzung vorbei und wir übergeben sie gemeinsam Ihrer Mutter. Va bene?“
Felicity stimmte allem zu und wusste nicht, ob sie sich über Pater Simones kryptisches Benehmen wundern oder sich eher vor der Geschichte ihrer Großmutter fürchten sollte. Was mochte sie enthalten, das den Pater so verstört hatte?
Sie war mit ihrer Mutter in den letzten Tagen mit den Unterlagen aus der Schachtel so gut wie keinen Schritt weitergekommen. Sie hatten, außer für ein paar kurze Spaziergänge, zu denen Felicity ihre Mutter mehr oder weniger hatte zwingen müssen, nicht einmal Zeit gefunden, Rom zu erkunden. Stattdessen hatten sie fast ununterbrochen über den Zeitungsschnipseln gebrütet.
„Eines verstehe ich nicht, Mom“, hatte Felicity ihre Mutter gleich zu Anfang gefragt. „Warum hat Großmutter alles zerrissen, nur um es dann in einer Schachtel aufzubewahren? Warum hat sie die Sachen nicht gleich weggeworfen?“
Ihre Mutter hatte verlegen eingeräumt, dass sie es war, die den Inhalt im ersten Schock zerrissen hatte. Seufzend war Felicity zunächst daran gegangen, die zahllosen Schnipsel zu sortieren. Es waren ausschließlich Zeitungsausschnitte, keine Briefe oder andere Dokumente. Alle waren auf Deutsch oder auf Italienisch verfasst, einige wenige in Hebräisch - Sprachen, die weder Mutter noch Tochter beherrschten.
Felicitys Versuch, einzelne Texte mit Hilfe einer Übersetzungssoftware im Internet zu übersetzen, brachte nur wirren Wortsalat hervor, was daran liegen mochte, dass die Texte zum Teil älter als siebzig Jahre waren. Weitere Stunden hatte sie damit verbracht, einzelne Worte mit einem Wörterbuch zu übersetzen. Das Ergebnis war ebenso dürftig. Am Ende waren sie nicht schlauer als zuvor. Die Prozessakte war ebenfalls komplett in Hebräisch verfasst. Das einzig positive Ergebnis der gemeinsam verbrachten Tage war, dass sich Mutter und Tochter tatsächlich ein wenig näher gekommen waren.
Und ihre Mutter hatte noch ein weiteres Ziel erreicht. Felicity war nicht nach Kabul geflogen. Heute hätte sie dort ihren Dienst antreten müssen. Stattdessen fuhr sie ihren Laptop hoch. Pater Simones Mail war bereits im Posteingang.
Felicity öffnete das Dokument der Anlage und begann zu lesen.
Einleitung von Raffael Valeriani
Ich weiß noch genau, wie es war, als ich sie das erste Mal sah. Noch heute kann ich jede Einzelheit des Wetters an jenem Tag beschreiben, spüre die Wärme der Sonne auf meiner Haut, sehe das verirrte Licht zwischen den gedrängten Häuserfassaden, rieche den Schmutz der Straßen und der Menschen.
Dann sehe ich sie vor mir, die Kleidung, die sie trug, und den verlorenen Ausdruck in ihren Augen. In jenem Augenblick wusste ich, dass Gott mir diese Frau geschickt hatte, um sie zu retten.
Und doch habe ich mir seither oft die Frage gestellt, wie es gewesen wäre, wenn sich in jener Stunde unsere Wege nicht gekreuzt hätten.
Ich war ein junger Priester, hatte meine Weihen erst kürzlich empfangen und war das, was man einen Beseelten nannte. Meine Inbrunst im Gebet wurde nur noch übertroffen durch den Wunsch, Barmherzigkeit und Nächstenliebe in die Welt zu tragen. Ich liebte meine Mitmenschen mehr als mich selbst.
Dies wurde zum Verhängnis meines Lebens. Ich begriff zu spät, dass Liebe nicht nur ein Auftrag war, sondern auch eine Tat.
Ich traf sie in der heiligen Stadt Rom, kurz nach dem unsäglichen Krieg. Dies ist ihre Geschichte.
Ich bat sie, sie aufzuschreiben - nicht für mich, sondern für sich selbst, weil ich hoffte, dass es ihr helfen würde, all das Schreckliche, das sie erlebt hatte, zu überwinden.
Teil 2
Vergangenheit
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Gustav und Elisabeth
Kapitel 5
DER WEISSE RABE
1923
Elisabeth hatte ein schlechtes Gewissen. Sie war viel zu spät dran. Ihr Gatte würde sich längst Sorgen machen. Zu ihrem Ärgernis hatte sie bei ihrer Rückkehr aus Diessen auch noch feststellen müssen, dass die Straßen Münchens zwischenzeitlich fast vollständig gesperrt worden waren.
Das Dienstmädchen hatte die Tür
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