Honigtot (German Edition)
die Lager spazieren und Lebensmittel und Kleider an die Juden verteilen?“
„Welche Lager?“, erwiderte Deborah verwirrt und sah von den Bläschen auf.
Ungläubig schüttelte Marlene den Kopf. „Herr, lass Wissen regnen“, deklamierte sie in Richtung Zimmerdecke. „Das darf ja wohl nicht wahr sein. Von welchem Stern bist du?“ Offenbar stand es schlimmer um Deborah, als sie zunächst angenommen hatte. Das Mädchen war so unbedarft wie das Gretel aus dem Kasperletheater. Wo hatte sie ihre Ohren, wenn sie bei den Männern am Banketttisch saß? Worüber unterhielten sie sich wohl die Hälfte der Zeit?
Erneut kamen Marlene Zweifel an ihrem Vorhaben. Trotzdem wollte und konnte sie nicht aufgeben, das Mädchen könnte sich als äußerst wertvoll für ihre Sache erweisen. Sie musste es einfach nur richtig angehen.
„Du scheinst tatsächlich keine Ahnung zu haben, was um dich herum so vor sich geht, oder? Eigentlich erstaunlich bei dem, was du und deine Familie bereits mitgemacht habt. Dass wir Krieg haben, wirst ja wohl sogar du inzwischen bemerkt haben. Bei all den Uniformen, die im Umlauf sind. Dein Albrecht trägt ja auch so eine wichtige, die schwarze mit dem Totenkopf. Sag mir, ma petite: Weißt du eigentlich, was er macht? Er kämpft nicht an der Front. Also: Was genau tut Albrecht in diesem Krieg ? Was ist seine Aufgabe? Was macht er hier im Generalgouvernement?“, griff Marlene an. Sie musste es jetzt wissen.
Deborah reagierte, indem sie mit beiden Händen den Schaum aufwirbelte und mit ihm spielte. Plötzlich rutschte sie tiefer und tauchte mit ihrem Kopf unter Wasser. Marlene blieb ungerührt, wartete und zählte die Sekunden. Sie kam bis sechzig, dann schoss Deborahs Kopf hoch. Sie schnappte nach Luft. Marlene sagte nichts. Die Art, wie Deborah die Augen zusammengekniffen hatte, deutete an, dass sie unter Wasser neue Inspiration gewonnen hatte.
Und richtig. Deborah parierte: „ Dein Ernst trägt doch auch eine Uniform. Was macht eigentlich er in diesem Krieg?“ Ihre Stimme äffte Marlenes erstaunlich gut nach und traf dabei genau die richtige Nuance von Sarkasmus.
Alle Achtung, dachte Marlene und quittierte die giftige Replik mit einem beifälligen Nicken. Dass das Mädchen ihrerseits angriff, gefiel ihr. Sie hatte sie provoziert und die kleine Sängerin hatte dabei einen kühlen Kopf bewahrt. Sie hatte es ihr zurückgezahlt, in dem sie ihr bedeutete, dass sie ihrer Meinung nach selbst im Glashaus saß. Die Würfel waren gefallen. Sie würde das Mädchen für ihre Sache rekrutieren. Albrecht Brunnmann kam eine wichtige Schlüsselrolle in diesem Krieg zu und sie musste ihre Chance nutzen, um an ihn heranzukommen.
Fast lächelte sie. „Fein. Du hast Recht. Das ist der Punkt. Wenn es dir wirklich ernst damit ist, der jüdischen Bevölkerung zu helfen, dann verrate ich dir, was Ernst macht und du verrätst mir im Gegenzug, was Albrecht tut. Einverstanden?“
„Einverstanden“, stimmte Deborah zu, um dann mit entwaffnender Ehrlichkeit zu ergänzen: „Ich fürchte nur, dass dies eine ziemlich einseitige Abmachung ist. Ich weiß tatsächlich nicht, was Albrechts Arbeit ist, außer kreuz und quer zu verreisen. Wir sprechen nie darüber. Das Einzige, was er diesbezüglich einmal zu mir gesagt hat, war, dass ein Krieg nur durch die Logistik zu gewinnen ist. Vermutlich ist er so etwas Ähnliches wie ein Organisator. Aber was das genau bedeuten soll, weiß ich wirklich nicht.“ Die Art, wie sie es sagte, hätte Marlene fast ein Schmunzeln entlockt. Es klang so liebenswert erstaunt, als hätte sich das Mädchen diese Frage selbst vorher nie gestellt und wäre gerade über ihre eigene Unwissenheit gestolpert.
„Dem ist leicht Abhilfe zu schaffen. Frag ihn doch einfach danach. Männer fühlen sich geschmeichelt, wenn man ihre Arbeit bewundert. Mein Ernst gleicht in dieser Hinsicht einem übersprudelnden Quell.“
„Albrecht ist da, fürchte ich, anders gestrickt … glaube ich zumindest“, entgegnete Deborah. Sie versuchte sich an mehrere Begebenheiten zu erinnern, bei denen Albrecht die Gelegenheit gehabt hätte, mit ihr über seine Tätigkeit zu sprechen, es aber stets unterlassen hatte. Tatsächlich hatte er ihr gegenüber immer den Eindruck vermittelt, ungern über seine Arbeit zu sprechen. Darum hatte sie hier bei ihm auch nie nachgehakt.
„Er hat doch diese Aktentasche, die er andauernd mit sich herumträgt. Warum wirfst du nicht einmal einen Blick hinein und siehst nach?“ Marlene
Weitere Kostenlose Bücher