Honigtot (German Edition)
älterer Herrenbegleitung schlenderten heran, blieben vor dem Fenster stehen und widmeten sich mit großem Palaver den Vorzügen des ausgestellten Kleides. Die Herren widmeten sich den Vorzügen Deborahs.
Deborah fand ihre unverhohlenen Blicke unangenehm und fühlte sich plötzlich reichlich fehl am Platz. Ihr Elan erlosch. Wie albern von ihr, Marlene einfach so nachzulaufen!
Sie verspürte allerdings auch wenig Lust, ins Hotel zurückzugehen. Unentschlossen blickte sie sich um und erinnerte sich an ein kleines Café, das sich um die Ecke in einer schmalen Gasse hinter der Schneiderei befand.
Sie hatte es zusammen mit Marlene schon ein paar Mal besucht und mochte die beiden freundlichen Schwestern, die dort das Regiment führten und den köstlichsten Kuchen weit und breit führten. Im selben Augenblick, in dem sie um die Ecke bog, entdeckte Deborah etwas Unerwartetes: Ihre Freundin Marlene, die die Schneiderei soeben durch den Hintereingang verließ und eilig nach links in die nächste Gasse einschwenkte.
Ohne groß nachzudenken, hastete Deborah ihr auf Zehenspitzen hinterher. Sie sah gerade noch, wie Marlene in einem Hauseingang verschwand. Die Häuser rechts und links der schmalen Gasse waren ineinander verschachtelt, schienen sich in der Ferne zu verengen, während sie gleichzeitig in der Höhe zusammenwuchsen. Die Fenster waren klein und die Türstöcke niedrig, doch als Deborah das Haus erreichte, in das Marlene ihrer Meinung nach entschwunden war, bemerkte sie, dass drei ausgetretene Stufen zu der Tür hinabführten. Ein verrostetes Emailleschild hing an einem eisernen Gestänge neben der Tür und bewegte sich leise knarzend im Wind. Die Schrift darauf war polnisch, aber darunter prangte deutlich erkennbar das Abbild eines Stiefels.
Eine Schuhmacherwerkstatt? Deborah überkam der Anflug eines schlechten Gewissens. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber sicherlich nicht, dass sich ihre Freundin lediglich ein Paar neue Schuhe anfertigen ließ!
Erst jetzt gestand sie sich ein, dass sie insgeheim gehofft hatte, Marlene zu überlisten, indem sie ihr zu dem geheimnisvollen Pavel folgte.
Deborah versuchte durch das fast blinde und verschmutzte Fenster in das Haus zu spähen, doch sie konnte rein gar nichts im Inneren erkennen. Auch kein Laut drang nach draußen.
Dann ging alles sehr schnell - Deborah blieb nicht einmal mehr die Zeit, zu schreien. Sie wurde von hinten gepackt, eine grobe, stark nach Tabak riechende Hand schloss sich um ihren Mund, eine zweite um ihre Hüfte. Ohne viel Federlesens wurde sie dann durch die Eingangstür bugsiert. Der Fremde zerrte sie mit sich in den Raum hinein. Es herrschte Halbdunkel und die wenigen Einrichtungsgegenstände waren nur schemenhaft zu erkennen. Es roch nach Leder und Gerbsäure.
Der Mann stieß mit dem Fuß eine weitere Türe auf und schleppte sie mit eisernem Griff durch einen langen schmalen Gang weiter in die Dunkelheit hinein. Deborah glaubte, unter seinem Griff ersticken zu müssen. Dann ging es durch eine dritte Tür, die in einen kleinen, fensterlosen Raum mündete, in dem ein Tisch und vier Stühle standen. Sonst nichts. Das einzige Licht spendete eine Kerze. Zwei Personen saßen an dem Tisch und starrten im trüben Dunkel die Neuankömmlinge an.
„Die hat draußen rumgeschnüffelt“, knurrte der kräftige Mann. Er ließ Deborah nicht los, obwohl sie jetzt heftig strampelte und um sich schlug - mit ungefähr dem gleichen Effekt, als würde sie gegen einen Felsen treten. Eines musste man Marlene lassen, sie verzog keine Miene. „Du bist es“, sagte sie nur und an Jakob alias Pavel gewandt: „Darf ich vorstellen? Das ist Deborah, Brunnmanns kleine Freundin.“
„Hast du den Verstand verloren, einem deutschen Naziliebchen zu vertrauen?“, brüllte Jakob und seine mächtige Faust sauste mit einem Donnerschlag auf den Tisch nieder, dass dieser einen Satz machte und die Kerze darauf tanzte.
Marlene lächelte ihn honigsüß an: „Nun, das bin ich auch, nicht wahr, mein Lieber?“ Sie zog ihre feinen Augenbrauen in einer bestimmten Weise hoch - offenbar eine unterschwellige Botschaft, deren Bedeutung Jakob sofort den Wind aus den Segeln nahm. Ein Kopfnicken von ihm und der Mann ließ Deborah so unvermittelt los, dass sie taumelte und sich am Tisch festhalten musste, um nicht zu fallen.
Jakob lehnte sich lässig im Stuhl zurück und streckte die langen Beine aus, die in schwarzen Lederstiefeln steckten. Die Arme vor der Brust verschränkt,
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