Honigtot (German Edition)
viele ähnliche Szenen in der Stadt ereignet hatten, war nicht klar.
Der zweite SS-Mann trat näher, ließ aber den älteren Verletzten nicht los, sondern zerrte ihn mit sich. Dann lachte er ebenfalls meckernd. „Du hast Recht, Rudi. Ich glaube nicht, dass mir je ein hässlicheres Exemplar untergekommen ist. Wie ist dein Name, Judenschwein?“, brüllte er Osman zu.
Und als Osman seiner Meinung nach nicht schnell genug antwortete, schlug er ihm sofort hart ins Gesicht.
„Was geht hier vor?“, erklang unvermittelt eine autoritäre Stimme, die zu einem SS-Offizier gehörte. Sofort teilte sich die Menge pflichtschuldigst vor ihm.
Die beiden SS-Polizisten nahmen Haltung an.
„Wir haben zwei Judenschweine und ihr Flittchen geschnappt, Herr Hauptsturmbannführer“, schnarrte der Blasse namens Adi und reckte das Kinn.
Der hinzugekommene SS-Offizier streifte Osmans Blöße mit einem geringschätzigen Blick und blieb dann auf Deborah haften, die immer noch auf dem Boden kniete. Er stutzte, eilte zu ihr und half ihr dann vorsichtig auf die Beine. Schwankend lehnte sich Deborah an ihn.
„Herrgott, Fräulein Malpran“, rief er erschrocken aus. „Sie sind das! Was ist Ihnen denn geschehen? Soll ich einen Arzt rufen?“ Er wandte sich hilfesuchend um und rief in die Runde: “Ist hier ein Arzt in der Nähe?“ Adi und Fritz tauschten einen verständnislosen Blick. Osman zog sich blitzschnell an und eilte an Deborahs andere Seite. Der Offizier wollte eine abwehrende Handbewegung machen, aber Deborah flüsterte noch immer atemlos: „Nein … das ist Osman … der Chauffeur … des Obersturmbannführers.“
Ein winziger alter Pole mit schlohweißem Haar meldete sich jetzt: „Ich Arzt, bittaschön. Kommen Sie, Praxis ist sich hier ganz nahe“, sagte er in gebrochenem Deutsch. Geschäftig bahnte er sich einen Weg durch die Zuschauer, gefolgt von dem SS-Offizier und Osman, die beide Deborah stützten. Bevor sie sich entfernten, wandte sich der Offizier kurz den SS-Polizisten zu: „Sie beide kehren auf der Stelle in ihr Quartier zurück und halten sich bis auf Weiteres bereit! Das wird ein böses Nachspiel für Sie haben! Verlassen Sie sich darauf!“, drohte er ihnen.
Deborah saß auf einer harten Pritsche in einer kargen Praxis mit erschreckend leerer Vitrine. Nichts erinnerte auch nur im Entferntesten an die gut ausgestattete, anheimelnde Praxis ihres Vaters, in der es an nichts gefehlt und deren harmonische Ausgewogenheit einem jeden Kranken das Gefühl vermittelt hatte, sehr bald wieder gesund zu werden.
„Bitte, es geht schon wieder“, flüsterte Deborah. Sie verspürte den unwiderstehlichen Drang, sofort in das Hotel zurückzukehren, sich einzuschließen, und dann ihre Scham und ihre Wut mit dem Messer zu betäuben.
Der Arzt hatte leichte und flinke Hände und dazu einen pfiffigen Humor. „Kleine Frau, nix schlimm passiert. Dafür lange schöne Farben auf Bauch blühen. Wie Blume, ja?“, sagte er und lächelte sie an. Er verabreichte Deborah eine trübe Flüssigkeit: „Gut trinken. Nix schlecht, nix übel, ja?“ Er ermahnte sie weiter, sich eine Weile auszuruhen. Und ergänzte: „Falls sie doch schlimmere Schmerzen oder rotes Blut in Toilettenstuhl, dann schnell Doktor suchen, bittaschön, ja?“
Dann durfte sie gehen. Der Hauptsturmbannführer, der sie als häufiger Gast in der Bar des Grand Hotel Slawkowskaja als Begleitung von Albrecht Brunnmann wiedererkannt hatte, begleitete sie und Osman zum Hotel zurück. Er entschuldigte sich beinahe den ganzen Weg über bei Deborah für dieses furchtbare Missgeschick. Bei Osman entschuldigte er sich nicht.
Er verabschiedete sich dann ziemlich hastig vor dem Hotel von ihr und stob davon.
Erst danach fiel Deborah auf, dass er sich ihr nicht namentlich vorgestellt hatte. Osman schickte sich ebenfalls an, unauffällig in sein Quartier zu verschwinden. Deborah legte ihm leicht die Finger auf die Hand und hielt ihn zurück: „Osman, auf ein Wort. Ich möchte dir danken und ich muss mich bei dir entschuldigen. Das, was heute geschehen ist, war furchtbar. Die Menschen sind furchtbar. Nimmst du meine Entschuldigung an?“
Osmans Antwort bestand darin, dass er vor ihr auf ein Knie sank. Verwirrt starrte Deborah auf ihn hinunter. Er beugte den Kopf, nahm mit beiden Händen ihre rechte Hand und presste seine Stirn sekundenlang darauf. Dann rappelte er sich auf und hetzte davon. Eigentlich hatte Deborah ihn noch fragen wollen, was er ohne seine Uniform auf
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