Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
Als er im Mount Royal Palace ankam, trat Michelle Henke auf ihn zu.
»Hallo, Mike.«
»Justin. Sie sind genau der Mann, den ich zu finden hoffte.«
Justin bezweifelte sehr, dass die Ehrenwerte Michelle ihm zufällig begegnet war. Dem Zufall überließ die selbstbewusste junge Frau nur sehr wenig.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Es geht um Monroe. Er ist zunehmend bedrückt. Wir machen uns große Sorgen, dass er Selbstmord begeht. In seiner Nähe duldet er niemanden außer der engsten Familie, deshalb leisten wir ihm abwechselnd Gesellschaft, aber im Augenblick hat jeder von uns irgendwo anders etwas zu tun. Michael und ich müssen bald bei der Totenwache erscheinen; Calvin trifft sich mit einigen jungen Lords, um sie zu bewegen, für eins von Beths Projekten zu stimmen, und Mom –«
»Ich begreife schon. Sie möchten, dass ich mich um Monroe kümmere?«
»Würden Sie das tun? Im Moment ist Michael bei ihm.«
»Glauben Sie, Monroe würde in meine Suite mitkommen? Ich erwarte dort jemanden.«
Mike wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich wüsste keinen Grund, warum nicht. Ein Tapetenwechsel täte ihm vielleicht sogar gut. Wenn er sich sträubt, können Sie Ihre Verabredung eventuell in Onkel Rogers Arbeitszimmer verlegen.«
Justin warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich gehe sofort und erlöse Michael auf die eine oder andere Weise.«
»Sie sind ein Prinz!« Mike hauchte ihm einen raschen Kuss auf die Wange.
»Noch nicht«, entgegnete er grinsend.
Lachend eilte die Ehrenwerte Michelle davon, um für die Totenwache Uniform anzulegen.
Beim jungen Michael, so sagte sich Justin auf dem Weg zu König Rogers Büro, hatte Michelle Henke gewiss einen tiefen Eindruck hinterlassen. Der Kronprinz wurde momentan nicht allzu unterschwellig mit den Vorzügen einer Navy-Karriere indoktriniert.
Kaum dass der Posten vor der Tür Prinz Michael signalisierte, dass Mr. Zyrr eingetroffen sei, wurde Justin mit ungeziemender Hast eingelassen.
Michael hatte offenbar seinen Kammerdiener angewiesen, ihm die formelle Kleidung in das Büro zu bringen, damit er sich beim Warten umziehen konnte, denn er stand im besten Hofputz neben dem Schreibtisch seines Vaters.
»Justin!«
»Sie sind nun schon der zweite, der mich binnen zehn Minuten mit solchem Entzücken begrüßt, Königliche Hoheit«, sagte Justin trocken. »Ich sollte mich wohl geehrt fühlen. Mike hat mich instruiert, und ich löse Sie bei Monroe ab.«
»Danke, Justin.« Michael wies auf den Baumkater, der schlaff und mit stumpfem Fell auf seinem Platz lag. »Er isst nichts und trinkt nur wenig Wasser. Beth sagt, ihn hält nur eins davon ab, Schluss zu machen: dass wir uns so sehr um ihn sorgen.«
»Also müssen wir in seiner Nähe bleiben.«
Er ging zu dem reglosen ‘Kater und streichelte ihn. Fast wäre er zusammengezuckt, als er ertastete, wie spitz die Wirbel unter dem buschigen Tarnkleid des Fells hervorstanden. Der ‘Kater hatte die Augen geschlossen, und selbst als Justin ihn versuchsweise unter dem Kinn kitzelte, zeigte sich kein Schimmer der grünen Pupillen.
»Sind Sie sicher, dass er überhaupt bei Bewusstsein ist?«, fragte er entsetzt.
»Nein«, sagte Michael müde. Gegenüber dem Jungen, der bei der Erinnerung an den Streit mit seinem Vater in Tränen ausgebrochen war, wirkte er um Jahre gealtert. »Der Tierarzt meint, dass Monroe nicht oft bei Bewusstsein ist, aber dass er unsere Anteilnahme trotzdem die meiste Zeit über spüren kann.« Der Kronprinz streckte die Arme vor. »Würden Sie mir bei den Manschettenknöpfen helfen, Justin? Die hier gehören Dad, und sie schnappen schwieriger ein als meine alten.«
»Kein Problem.«
Justin schloss ihm die Manschettenknöpfe und zog dem Jungen die spitzenbesetzte Hemdbrust glatt. Als Roger I. der erste Monarch des Sternenkönigreichs wurde, hatte er einen Künstler engagiert, der ihm die Hofgarderobe entwerfen sollte. An Vorgaben hatte er nur gesetzt, dass die neue Tracht bequem, elegant und für Männer und Frauen gleich geeignet sein müsse.
Der Künstler hatte großartige Arbeit geleistet, fand Justin nicht zum ersten Mal, als er Michael ins Jackett half. Der Frack, den man über der maßgeschneiderten Hose trug, war dem alten England entlehnt, das Rüschenhemd mit den Spitzenmanschetten entstammte einer etwas früheren Epoche. Um lästiges Durcheinander zu vermeiden, war auf Kopfbedeckungen verzichtet worden, und an den Füßen trug man Stiefel mit niedrigen Absätzen, die elegant aussahen und dem Träger
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