Honor Harrington 10. Die Baumkatzen von Sphinx
hin folgte. Der Wind nahm weiter zu, das Donnergrollen wurde immer lauter. Blitze zuckten von Wolke zu Wolke und leuchteten zwischen den hin und her peitschenden Ästen hindurch. Nicht mehr lang, und die Blitze würden in den Boden einschlagen – oder in den nächsten geeigneten Baum. Scott legte keinen Wert darauf, ausgerechnet unter demjenigen Baum zu stehen, der einem Fluss ungebändigter Elektrizität als Leiter dienen würde. Je länger er sich die Folgen eines Blitzeinschlags in den Pfostenbäumen ausmalte, desto mehr fürchtete er um das Leben des Baumkaters.
»Muss es zum Flugwagen schaffen«, leierte Scott unentwegt vor sich hin, während er das ganze Gewicht auf den Stab verlagerte und sich holpernd vorkämpfte. Bei jedem Schritt stach und pochte sein Knöchel protestierend, doch war dieser Schmerz nichts im Vergleich zu den Todesqualen, die ihm den Kopf zu zersprengen drohten. Der Wald verschwamm vor seinen Augen, verblasste ebenso wie seine schwindende Kraft. Die Wirklichkeit schrumpfte zusammen auf einen Knoten aus Furcht und Kopfschmerz und den Wunsch, einen einzigen Schritt weiterzuschlurfen und dann noch einen, unbeholfen und zittrig über umgestürzte Bäume zu kriechen, über spitze, aus dem Boden ragende Felsen und gezackte Steinblöcke, die von der Flut einer lange vergangenen Jahreszeit ausgerechnet in seinen Weg gespült worden waren. Keuchend sog Scott die dicke, vom Gewitter gesättigte Luft ein. Er musste genügend Sauerstoff in die Lungen bekommen, um an der unwegsamen Flussböschung entlang immer weiterhinken zu können.
Der Regen traf ihn wie ein Schlag. Scott strauchelte und bewahrte sich gerade noch vor dem Fall; er war auf dem urplötzlich schlüpfrigen Laub ausgerutscht. Von einem Moment zum anderen war er wieder bis auf die Haut durchnässt. Er zog den Kopf zwischen die Schultern, keuchte und versuchte zitternd genügend Kraft zu sammeln, um weiterzumachen. Der Regen peitschte herab, prasselte ihm mit einer Wucht auf Rücken und Kopf, die von den Bäumen über ihm kaum gemildert wurde. Er versuchte sich zu orientieren, denn er hatte wegen des Unterholzes den Sichtkontakt mit dem Fluss verloren. Plötzlich blendete ihn ein gleißend heller Blitz, und im nächsten Moment traf ein Donnerschlag ihn wie ein Hieb am ganzen Körper. Ein weiterer Blitz enthüllte ihm eine pelzige, durchnässte Gestalt, die über ihm auf einem Ast kauerte. »Warum gehst du nicht nach Hause?«, brüllte Scott ihm zu, um den brüllenden Regen und schmerzhaften Donner zu übertönen. »Du wirst noch vom Blitz getroffen, wenn du da oben bleibst!«
Zwischen dem Donnern hörte er ein scharfes Geräusch, dann keuchte er: Der Baumkater war vom Ast gesprungen und genau auf seiner Schulter gelandet. Fishers Wärme wirkte auf seiner triefnassen Haut wie ein Schock. Die Berührung winziger Hände auf seinem Gesicht aber ergriff ihn zutiefst. »Bliek!« In diesem Laut lag große Unruhe, und zugleich spürte Scott, wie die Emotionen des Baumkaters auf ihn einstürmten. Mit völliger Sicherheit wusste er nun, dass Fisher ihn unter keinen Umständen verlassen würde – Stephanie Harringtons Baumkater hatte lieber einen Hexapuma angegriffen, als sich von ihr zu trennen. Er sah sich einer selbstlosen Ehrauffassung gegenüber, angesichts derer er sich für gut drei Viertel der menschlichen Geschichte schämen musste.
Ohne auf den prasselnden Regen zu achten, drückte Fisher seinen Kopf an Scotts Wange und summte ihm ins Ohr, berührte ihn im Gesicht, schlang ihm den Schweif sanft um den Hals – unablässig versicherte er Scott, er sei diesem entsetzlichen Unwetter nicht allein ausgeliefert. Scott wagte es, eine Hand von der Krücke zu nehmen und das vernunftbegabte Wesen auf seiner Schulter zu berühren; während er das nasse Fell mit unsicheren Fingern kraulte, empfand er dessen zufriedenes Schnurren ebenso sehr, wie er es hörte.
»Wo kommst du nur her?«, fragte Scott. »Deine Leute müssen doch in der Nähe leben. Ich weiß nicht, weshalb du mir hilfst, Fisher, aber du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass du bei mir bist.« Dann, als er über die intensiven Gefühle nachdachte, die von dem Baumkater auf ihn übergingen, überlegte es sich anders. »Na, vielleicht kannst du es doch.«
»Bliek …« Ein leiser, tröstender Laut. Der Baumkater wies durch den Platzregen ungefähr in die Richtung, wo Scott den Flugwagen gelandet hatte – ein ganzes Lebensalter musste das her sein. »Bliek!« Scott
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