Honor Harrington 5. Im Exil
sie wäre einer traditionellen graysonitischen Frau ein wenig ähnlicher. Seine Vorstellung von Anstand war – treffend ausgedrückt – »erweitert« worden, während er ihr als Waffenträger diente, aber trotzdem war und blieb er ein Grayson. Deshalb hatte er aus grimmiger Pflichtergebenheit die Bürde des Schwimmenlernens auf sich genommen und einen Lebensretterkurs absolviert, nur um zu seinem eigenen Erstaunen festzustellen, daß diese Betätigung ihm Spaß machte. Dem Großteil ihrer Sicherheitskräfte erging es so, nur Jamie Candless hegte noch gewisse Vorbehalte. Sie hatten es sich sogar zur Gewohnheit gemacht, einen guten Teil ihrer Freizeit am Pool der Gutsherrin zu verbringen, aber Lady Harringtons Badeanzug wirkte auf sie immer noch wie ein bewaffneter Angriff auf die graysonitische Moral. Zwar hatten die Ereignisse des vergangenen Jahres LaFollets Standards immer weiter ›aufgeweicht‹ – was möglicherweise begrüßenswert sein mochte, wie er rein intellektuell einzuräumen bereit war –, dennoch war er sich der tiefverwurzelten, anerzogenen Anstandsregeln immer dann besonders schuldhaft bewußt, wenn er seiner Gutsherrin beim Schwimmen zusah.
Dabei wußte er genau, daß sie bereits Konzessionen gemacht hatte. Nach manticoranischen Vorstellungen war ihr einteiliger Badeanzug außerordentlich unansehnlich, aber für die Ecke von LaFollets Verstand, in der die grundlegendsten Elemente des Zwischenmenschlichen saßen, hätte Lady Harrington genausogut nackt sein könnten. Dazu kam noch, daß sie schon in frühester Kindheit die neuste und daher wirksamste Prolong-Behandlung erhalten hatte. Sie sah geradezu absurd jugendlich aus, und ihr wie gemeißelt schönes Gesicht wirkte durch die mandelförmigen Augen auf den Betrachter exotisch. Dies und ihre athletische Anmut drohten in dem Major noch wesentlich unangebrachtere Reaktionen hervorzurufen. Lady Harrington war dreizehn T-Jahre älter als er und sah rein äußerlich doch eher wie eine jüngere Schwester aus. Nicht im entferntesten stand es ihm zu, von seiner Gutsherrin als der attraktivsten Frau zu denken, die ihm je vor die Augen gekommen war – und ganz gewiß nicht, wenn sich ihr nasser Badeanzug an jede geschmeidige Kurve schmiegte.
Er kehrte ihr den Rücken zu, bis sie sich abgetrocknet hatte, und stieß innerlich einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie MacGuiness den Bademantel abnahm und sich den Gürtel zuband. Lady Harrington setzte sich in den Stuhl neben dem Schwimmbecken, LaFollet drehte sich um und nahm den angemessenen Platz neben ihr ein. Er spürte, daß seine Lippen zuckten, als sie mit dem schmalen, schiefen Lächeln zu ihm aufsah, das so typisch für sie war. Ein strahlendes Lächeln war es nicht gerade, und die geringfügige Verzögerung, mit der die künstlichen Nerven am linken Mundwinkel auf den Impuls reagierten, ließen es ein wenig schräg erscheinen, aber das Lächeln zeigte LaFollet, daß Lady Harrington seine Gedanken kannte, und ihre Belustigung war viel zu sanft, als daß er ihr deshalb hätte böse sein können. In dem Lächeln lagen weder Spott noch Herablassung, es war ironischer Ausdruck des gemeinsamen Bewußtseins um die Unterschiede der beiden Gesellschaften, aus denen sie stammten, mehr nicht – und allein der Anblick wärmte dem Major das Herz. Aber selbst in diesem Moment lauerte hinter dem Lächeln die Dunkelheit, obwohl die Trauer und das Gefühl des Verlustes, die Lady Harrington für viel zu lange Zeit belastet hatten, nun allmählich zu verblassen begannen. Der Prozeß war langsam und schmerzhaft, aber LaFollet freute sich sehr, daß nun endlich eine Veränderung in Lady Harrington vonstatten ging. Wenn es sie nur zum Lächeln brachte, dann vermochte er ein wenig Verlegenheit zu ertragen. Er zuckte mit den Schultern, um das geteilte Wissen um die Bedrängnis seiner kulturgegebenen Engstirnigkeit zu bestätigen.
Honor Harringtons Lächeln verbreiterte sich, als der Leibwächter ihr zu verstehen gab, daß er das Absurde durchaus wahrnahm. Als MacGuiness den Deckel von einem Tablett nahm und es mit einer schwungvollen Bewegung auf dem Tisch absetzte, wandte sie den Blick ab. Nimitz sprang auf seinen Stuhl und stieß ein glückliches »Bliek!« aus. Nun wurde Honors Lächeln zu einem Grinsen. Sie bevorzugte ein leichtes Mittagessen, und MacGuiness hatte ihr eine Mahlzeit aus Salat und Käse zubereitet, aber Nimitz’ Schnurrhaare vibrierten vor Entzücken, als der Steward ihm einen Teller mit
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