Honor Harrington 5. Im Exil
daß Er im Gegensatz zu uns in die Herzen aller Menschen schaut und die Seinen kennt, so andersartig und fremd sie uns auch erscheinen mögen.«
Der Reverend hielt erneut inne, schürzte wie gedankenverloren die Lippen und wiegte bedächtig das Haupt.
»Ja, es ist schwer, ›andersartig‹ nicht mit ›falsch‹ gleichzusetzen. Keinem von uns fällt das leicht. Auf uns aber, die wir Gottes Ruf folgen, ihm als Seine Priester zu dienen, lastet besondere Verantwortung. Auch wir sind fehlbar. Auch wir können Irrtümer begehen – und begehen sie, auch wenn wir die besten Absichten verfolgen. Im Gebet und in der Meditation wenden wir uns an Gott, und doch gibt es Zeiten, in denen unsere Furcht zu Intoleranz und sogar Haß wird, denn selbst in der Stille des Gebets können wir unser eigenes Mißtrauen gegenüber dem Neuen oder Fremden für eine Gabe des Herrn halten.
Und genau das, Brüder und Schwestern, ist in eurer Stadt geschehen. Ein Priester der Vaterkirche sah in sein Herz und beratschlagte nicht mit Gott, sondern mit seinen eigenen Ängsten – und mit seinem Haß. Ringsum erblickte er Veränderungen, die er fürchtet, die seine Vorurteile und vorgefaßten Meinungen herausfordern, und er verwechselte seine Furcht vor dem Wechsel mit der Stimme Gottes und ließ sich von der Angst zum Dienste an der Verderbnis verleiten. In seinem Haß verschloß er sich vor der grundlegendsten aller Lehren Sankt Austins: daß Gott größer ist als der menschliche Verstand zu erfassen vermag, und daß der Neue Weg nie zu Ende geht – daß wir auf ewig Neues über Gott und Seinen Willen lernen werden. Jede neue Lektion müssen wir anhand dessen prüfen, was Gott uns an Wahrheiten bereits vermittelt hat, aber prüfen müssen wir sie wahrhaft gut und können nicht einfach sagen: ›Nein! Das ist mir fremd, und daher muß es gegen Gottes Gesetz verstoßen!‹ Bruder Marchant«, sagte Hanks ruhig, und ein leiser Seufzer erhob sich, als er endlich den Namen aussprach, »sah die enormen Wechsel, die unserer Welt bevorstehen, und diese Veränderungen flößten ihm Furcht ein. Das kann ich verstehen, denn ein Wechsel ist stets beängstigend. Aber wie Sankt Austin schon sagte: ›Dann und wann eine kleine Veränderung ist Gottes Art, uns zu erinnern, daß wir noch nicht alles gelernt haben‹, Brüder und Schwestern. Das hat Bruder Marchant vergessen, und in seiner Furcht nahm er seinen Willen und sein Urteil als gottgegeben. Er bemühte sich nicht um Prüfung der Wechsel, er wollte sie ohne Prüfung verbieten, und als er sich unfähig sah, sie zu unterdrücken, machte er sich einer noch schlimmeren Sünde schuldig: der Sünde des Hasses. Dieser Haß trieb ihn dazu, eine gute, gottgefällige Frau anzugreifen, eine, die uns vor vier Jahren mit ihrer Tat ihr Denken zeigte, indem sie mit bloßen Händen jenen bewaffneten Meuchlern trotzte, um unseren Protector vor der Ermordung zu schützen. Dann stellte sie sich zwischen unsere Welt und ihre Vernichtung. Sie ist nicht unseres Glaubens, aber in der Geschichte Graysons hat niemand uns so mutig vor denen beschützt, die nach unserem Untergang trachteten.«
Honors Wangen brannten scharlachrot, aber ein allgemeines, leises zustimmendes Gemurmel folgte Reverend Hanks’ Worten, und die Verbindung mit Nimitz versicherte Honor der Aufrichtigkeit aller Anwesenden.
»Eure Gutsherrin, Brüder und Schwestern, ist eine uns neue und fremde Frau. Sie wurde auf einer anderen Welt geboren, und auch das ist für uns merkwürdig. Sie wurde in einem Glauben erzogen, der anders ist als unserer, und sie hat ihn nicht abgelegt, um der Vaterkirche beizutreten. Aus diesen Gründen erscheint sie einigen von uns wohl bedrohlich, aber um wieviel ist es bedrohlicher, die Prüfung zu vergessen? Sich vom Wechsel abzuwenden, nur weil er eine Veränderung bedeutet, ohne zunächst zu erwägen, ob diese fremdgeborene Frau nicht vielleicht Gottes Weg ist, uns mitzuteilen, daß ein Wandel erforderlich sei? Sollen wir sie denn bitten vorzuheucheln, sie schlösse sich der Vaterkirche an? Soll sie den eigenen Glauben pervertieren, um uns so zu täuschen, daß wir sie akzeptieren? Oder sollten wir sie nicht eher dafür respektieren, daß sie es von sich weist, uns etwas vorzuspielen? Daß sie uns enthüllt, wer sie wahrhaftig ist, was sie denkt und empfindet?«
Ein weiteres, tieferes Murmeln der Zustimmung erfüllte die Kathedrale, und der Reverend nickte bedächtig.
»Wie ihr, Brüder und Schwestern, und wie Bruder Marchant
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