Honor Harrington 7. In Feindes Hand
Gesichtsausdruck und die Verwunderung in den Augen des Stabschefs, der zwar die Stimmungswechsel seines Vorgesetzten spürte, jedoch nicht alle Gründe dafür kennen konnte. In den Gedanken Tourvilles spielte der Stabschef im Augenblick nur eine untergeordnete Rolle. Die Lage umfaßte gewisse Implikationen, die er im ersten Überschwang außer acht gelassen hatte, und sein Verstand verbiß sich nun in die Frage, wie er den Konsequenzen am besten entgegentrat, die aufgrund der Gefangennahme Harringtons in absehbarer Zeit drohten.
Konnte er Everard Honeker um Hilfe angehen? Offiziell durfte er dem Volkskommissar seine Bedenken freilich nicht auseinandersetzen, doch andererseits war Honeker nun schon so lange sein politischer Wachhund, daß sich zwischen ihnen eine Art stillschweigenden Einvernehmens und gegenseitigen Verständnisses entwickelt hatte. Honeker würde gewiß seinen Anteil vom Ruhm für die Gefangennahme Harringtons abschöpfen, und deshalb war er vielleicht geneigt, Tourville zuzuhören. Honeker gehörte nach wie vor dem Amt für Systemsicherheit an; Tourville mußte davon ausgehen, daß er seiner Organisation die Treue hielt. Andererseits war der Volkskommissar jedoch auch ein Quasi-Offizier, der die Realitäten des Flottendienstes am eigenen Leibe erfahren hatte. Vor allem aber handelte es sich bei Honeker um keinen der Idioten, die in den Scharen von Volkskommissaren anscheinend den Hauptanteil stellten. Obwohl Honeker es niemals offen zugegeben hätte, schien er sich doch im klaren zu sein, daß eine Flotte, die einen Krieg gewinnen sollte, keine operativen Fakten ignorieren konnte, nur um jedem Punkt und Komma revolutionärer Doktrin zu genügen, die zudem im Einzelfall absolut eselhaft sein mochte! Ganz eindeutig hatte Honeker seinen Willen bewiesen, im Interesse der Vernunft und der Effektivität gelegentlich in die andere Richtung zu schauen … aber würde sich dieser Mann bewegen lassen, Tourville in seinem unfaßbaren Ansinnen zu unterstützen – nämlich Honor Harrington in Händen der Volksflotte zu belassen, anstatt sie der SyS zu übergeben?
Eins durfte Tourville sich niemals erlauben: Er konnte sich bei Honeker keinesfalls auf moralische Verpflichtungen und die Wahrung der Flottenehre berufen. Nicht etwa, daß Honeker nicht begriffen hätte, wie ernst solch ein Appell gemeint gewesen wäre; vielmehr kam er wie alle Volkskommissare mit einer vorprogrammierten Ablehnung von allem daher, was auch nur entfernt nach den prärevolutionären Konzepten des alten Regimes roch. Schließlich und endlich gehörte es zu den unauslöschlichen Glaubensgrundsätzen des Umsturzes, daß das Legislaturistenregime unter der Last seiner eigenen korrumpierten Dekadenz zusammengebrochen sei und sich das Komitee für Öffentliche Sicherheit daraufhin in einen revolutionären Kampf auf Leben und Tod gestürzt habe – einen Kampf gegen die Kräfte der Reaktion, der Aristokratie, des Elitedenkens und der verkrusteten plutokratischen Interessen. Die Werte der Gegner von Gerechtigkeit und Fortschritt seien ausnahmslos allein zur Manipulation der Massen ersonnene Lügen, die verworfen werden müßten als Pose einer gierigen Eliteschicht, die sich historisch verschworen habe, um das Volk zu unterdrücken, zu entwürdigen und auszubeuten. Wie Bürgerin Committeewoman Ransom es so gern ausdrückte: »Ehre ist ein Wort, das Plutokraten benutzen, wenn sie jemanden in den Tod schicken wollen.«
Tourville war allmählich zu der Vermutung gelangt, Honeker könnte die dekadenten Wertvorstellungen, welche Ransom so sehr verabscheute, weitaus stärker teilen als er zugegeben hätte. Der Volkskommissar erinnerte Tourville an einen Mann aus einer tief religiösen Familie, der am Gottesdienst teilnimmt, ohne sich je eingestehen zu können, daß er in seinem Innersten längst zum Agnostiker geworden ist. Was immer in Honekers Verstand vor sich ging, auf keinen Fall würde er offen der orthodoxen Doktrin widersprechen. Deshalb mußte Tourville seine Argumente – zumindest an der Oberfläche – wie eine nachvollziehbare Analyse der greifbaren und vor allem unmittelbaren Vorteile präsentieren.
Das beste Pferd, auf das ich setzen kann, sind die Deneber Übereinkünfte , überlegte Tourville. Weiß Gott hat die Systemsicherheit sie oft genug verletzt, trotzdem stellen die Vereinbarungen immer noch die offizielle Grundlage für die Behandlung von Kriegsgefangenen dar. Sie sehen ausdrücklich vor, daß das Militär für den
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