Honor Harrington 7. In Feindes Hand
als Männer, wenn die medizinischen Kenntnisse der fraglichen Frauen denen der Männer um wenigstens ein Jahrhundert voraus waren. Bei hinreichender Verbohrtheit gab es natürlich nichts, was unmöglich gewesen wäre. Ein gewisser Prozentsatz der konservativsten graysonitischen Ärzte hatte sich seine Vorurteile bewahrt, doch handelte es sich um eine verschwindend kleine Minderheit. Ungeachtet dessen hatten einige Angehörige der graysonitischen Ärzteschaft angenommen, daß Dr. Harrington den Posten als Leiterin der Klinik nicht wegen ihrer Fähigkeiten bekommen hatte, sondern wegen ihres Verwandtschaftsverhältnisses zur Gutsherrin; längst nicht alle dieser Ärzte dachten so aus Bigotterie.
Doch bisher hatte niemand diese Vermutung länger als zwanzig Minuten aufrechterhalten, nachdem er Dr. Harringtons Bekanntschaft machte, ob man sie nun in einer medizinischen oder einer administrativen Frage konsultierte. Sie war an der besten medizinischen Fakultät und den besten Lehrkrankenhäusern der erforschten Galaxis ausgebildet worden; sie konnte auf fünfundsechzig Jahre Erfahrung zurückgreifen, dazu auf eine Energie und einen Enthusiasmus, um die manch einer sie beneidet hätte, der nur ein Viertel so alt war; und wie ihre Tochter konnte sie schlichtweg nicht weniger leisten als ihr Bestes. Dr. Allison Chou Harrington mußte sich keine Mühe geben, um ihre Kritiker zu beeindrucken; dazu brauchte sie einfach nur sie selbst zu sein.
Miranda schwankte noch, ob sie es für gut oder schlecht befinden sollte, daß die Unterschiede zwischen Harrington und der Gutsherrin sehr rasch zutage getreten waren. Einem distanzierten Beobachter hätte man vielleicht sogar die Frage verziehen, ob die graysonitische Gesellschaft den Zusammenstoß mit Dr. Harrington überleben würde oder nicht.
Nach Mirandas Überzeugung besaß Allison Harrington zwar nicht die leiseste Neigung zur Boshaftigkeit, leider aber zur Schadenfreude. Was die konservativen Elemente Graysons über ihre Heimatwelt Beowulf dachten, mußte ihr nur allzu deutlich bewußt sein: Schon nach dem allerersten Diner bei den Clinkscales hatte dies unmißverständlich festgestanden, denn sie war in einem rauchgrauen, rückenfreien, sehr tief ausgeschnittenen Kleid aus dünner – sehr dünner – Neoseide erschienen. Der einfache Stil wirkte auf jeden Grayson geradezu brutal, und der blickdichte Stoff schmiegte sich an sie und betonte die Umrisse ihres Körpers so deutlich, daß Miranda sich in den ersten Sekunden ernsthafte Sorgen um die Gesundheit des Regenten gemacht hatte. Schließlich war Clinkscales schon lange kein junger Mann mehr, und man mußte an die mögliche Wirkung des Kleides auf seinen Blutdruck denken. Doch Clinkscales hatte Dr. Harringtons Lebenseinstellung bei ihrer Begegnung offenbar viel genauer registriert, als Miranda vermutet hätte, und daher keinerlei Verwirrung, Bestürzung oder Zorn gezeigt. Als er sich über ihre Hand beugte, um sie mit auserlesener Förmlichkeit zu begrüßen, grinste er sogar versteckt, dann führte er sie zum Eßtisch und stellte sie seinen Ehefrauen vor.
Miranda wußte nicht, ob Clinkscales seine Frauen vorgewarnt hatte. Allerdings zweifelte sie daran, denn in den letzten Jahren hatten alle drei eine Flexibilität gezeigt, die ihren Gemahl früher gewiß erstaunt hätte. Ihre Reaktion auf Allisons Gewand beschränkte sich darauf, den schönen Stoff und die Einfachheit des Schnitts zu loben. Daraus entspann sich ein ausführlicher Vergleich der graysonitischen und manticoranischen Stile. Zu Mirandas Überraschung ließ sich Allison sofort und mit funkelnden Augen auf das Thema ein; in diesem Moment erkannte Miranda etwas, womit sie im entferntesten nicht gerechnet hätte:
Allison Harrington war eitel. Nicht im negativen Sinne, sondern vielmehr in der Hinsicht, daß sie sich ihrer Attraktivität bewußt war. Ihre Vorliebe für das Sich-Herausputzen, das ›Auftakeln‹, war wenigstens ebensogroß wie die der Frauen Graysons. Miranda war ganz automatisch davon ausgegangen, daß Lady Harrington für alle Manticoranerinnen typisch sein müßte. Auch die Gutsherrin legte Wert auf ihr Äußeres und liebte es, einen makellosen, bezaubernden Anblick zu bieten, aber es war immer zweitrangig für sie gewesen. In gewisser Weise war es auch für ihre Mutter zweitrangig. Wenn sie arbeitete, um den Klinikbetrieb zu organisieren und das gewaltige Projekt in die Wege zu leiten, die Genomen jedes einzelnen Bürgers auf dem Gut von
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