Honor Harrington 7. In Feindes Hand
Reformer schienen zu glauben, daß Schrillheit ein annehmbarer Ersatz für Orientierung sei. Der Earl war zuversichtlich, daß dieser Zustand letztlich überwunden würde – die Reformen dauerten erst wenige Jahre an, und mit der Zeit würde sich vieles klären. Doch im Augenblick schienen die Reformer ihre Hauptaufgabe darin zu sehen, jedem ein unbehagliches Gefühl einzuflößen, der an einer gesellschaftlichen Zusammenkunft teilnahm, indem sie ihre Ablehnung der alten Ordnung aggressiv zur Schau stellten.
Durch den Konflikt zwischen der alten Garde und der neuen standen White Haven und die anderen Manticoraner direkt im Kreuzfeuer. Die Reaktionäre betrachteten die Fremdweltler als Quell der Seuche, die alles niederriß, was man kannte und liebgewonnen hatte, während die Reformer davon ausgingen, daß die Manticoraner die Reform unterstützen müßten … obwohl sich ebendiese Reformer offensichtlich nicht einmal untereinander einig waren! Auf diesem Drahtseil zu balancieren, ohne jemanden zu kränken – oder wenigstens nicht noch mehr zu kränken –, war beinahe ebenso ermüdend wie ärgerlich, und White Haven hing die Situation ganz einfach zum Halse heraus.
Auf dem Gut von Harrington war die Stimmung insgesamt etwas besser, weil es von Anfang an die aufgeschlossensten Bürger anderer Güter angezogen hatte. Nur zukunftsorientierte Menschen hatten den Entschluß treffen können umzuziehen, um unter der Feudalherrschaft des ersten weiblichen Gutsherrn der Weltgeschichte zu leben. Ob Lady Harrington es nun wußte oder nicht, ihr Status als Lehnsherrin machte sie zum Arbiter elegantiae auf ihrem Gut. Ihre Siedler beobachteten sie genau und stimmten die eigene Etikette auf Lady Harrington ab. Daher fühlte sich White Haven auf Harrington erheblich behaglicher als auf den anderen Gütern, und zumindest die frühe Phase des heutigen Balls, die der Begrüßung Lady Harringtons diente, hatte ihm gefallen. Sein Drang, dem Treiben zu entfliehen, war mehr auf kumulierte Erschöpfung zurückzuführen als auf einen konkreten Anlaß.
Nachdem er die von Lady Harrington mitgebrachten Befehle und Dokumente überflogen hatte, verließen ihn die Sorgen nicht mehr. Mit Freude hatte er erfahren, daß sie der 8. Flotte zugeteilt werden sollte, doch einige Berichte des Office of Naval Intelligence, des Nachrichtendienstes der Navy, waren sehr beunruhigend. White Haven wollte sie so rasch wie möglich mit Hochadmiral Matthews und Command Central besprechen. Einer der Hauptgründe für sein Verschwinden von der Feier hatte darin bestanden, daß er Zeit benötigte, um die Daten zu überdenken und die Einzelteile zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Zu anderen Inhalten des Depeschenpakets mußte er sich erst noch ein Urteil bilden, denn so bedrohlich die ONI-Analysen der havenitischen Aktivitäten auch erschienen, einige Empfehlungen des Weapons Development Boards der RMN lagen White Haven noch schwerer auf der Seele.
Er hielt es für fragwürdig, weitreichende und grundlegende Änderungen in der Flottenbewaffnung vorzunehmen, wenn man dazu ausgerechnet einen Zeitpunkt wählte, an dem das Sternenkönigreich ums Überleben kämpfte. Vor dem Krieg hatte er eine bittere, Jahrzehnte währende Schlacht gegen die Materialstrategen der Jeune école gefochten, die immerfort halb ausgereifte Waffensysteme einführen wollten. Zuzeiten hatten die Meinungsverschiedenheiten zu einem Austausch giftiger persönlicher Bemerkungen geführt, aus denen sich zu White Havens Bedauern heftige Fehden innerhalb der Navyführung entwickelten, doch davon hatte er sich in seinem Widerstand niemals beirren lassen. Das hatte er nicht gewagt . Die Jeune école war so sehr in den Gedanken verliebt, entscheidende taktische Vorteile aus technischen Neuentwicklungen zu ziehen, daß sie letztendlich dem Irrglauben folgte, alle neuen Ideen seien allein schon deswegen gut, weil sie neu waren. Eine sorgfältigere Begutachtung der taktischen Vorzüge und Nachteile hielt die Jeune école oft nicht durch. Was in letzter Zeit aufs Tapet gebracht worden war, erweckte bei White Haven den Eindruck, die Jeune école habe auch nicht die geringste Lehre aus dem Krieg gezogen, und deshalb …
Als er auf dem Parkett der Bibliothek klackende Schritte hörte, löste White Haven sich aus seinen schweifenden Gedanken. Eiligst nahm er die Füße von der Konsole und rückte den Sessel gerade, drehte sich damit zur Tür um und hielt inne. Im Laufe der Jahre hatte er viel zuviel
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