Honor Harrington 9. Der Stolz der Flotte
Hinsicht. Giscard und seine Hüterin unterhielten nämlich ein völlig anders geartetes Verhältnis, als sie nach außen hin zeigten. Kaum hatte sich die Luke seines Arbeitszimmers hinter ihnen geschlossen, als Pritchart eine Fernbedienung aus der Tasche zog und einen Knopf drückte.
»Gott sei Dank ist das vorbei«, seufzte sie und legte die Fernbedienung, mit der sie sämtliche Überwachungsanlagen in Giscards Kajüte steuerte, auf den Schreibtisch, drehte sich um und öffnete die Arme.
»Amen«, sagte er inbrünstig, und dann trafen sich ihre Lippen zu einem gierigen Kuss, dessen Leidenschaftlichkeit Giscard noch immer erstaunte – sogar mehr erstaunte als noch vor zwei T-Jahren, denn das Feuer zwischen seiner Volkskommissarin und ihm loderte seit dem unheilvollen Zusammenbruch der republikanischen Operationen in Silesia nur umso heller. Fast war es, als verzehrte sich die Flamme ihrer Leidenschaft in dem Versuch, die immer dunkler werdenden Schatten zurückzudrängen, die sich um sie schlossen.
Wenn jemand bei der Systemsicherheit auch nur einen Augenblick lang den Verdacht gehabt hätte, dass Pritchart und er ein Liebespaar sein könnten, wären die Folgen tödlich gewesen – und weithin publik gemacht worden. Wahrscheinlich. Oscar Saint-Just wäre die Entscheidung gewiss schwergefallen: Wäre es besser, die Hinrichtungen zum niederschmetternden Beispiel dafür machen, welchen Preis das Volk einer SyS-Agentin abverlangte, die sich durch Verführung von der kühlen Pflicht abbringen ließ, unter den Offizieren der Volksflotte auch noch die letzte Unabhängigkeit auszuspähen und zu zermalmen? Oder sollte man lieber beide unauffällig verschwinden lassen, damit der Umstand, dass sie ihr Geheimnis über drei T-Jahre lang hüten konnten, keine anderen Volkskommissare zur Treulosigkeit verleitete?
Wie Saint-Just diese Frage beantworten würde, konnte Giscard nicht sagen – und er wollte es auch gar nicht erfahren. Pritchart und er konnten nicht mehr zurück. Mit einer Fertigkeit, die jeden Bühnenkünstler beschämt hätte, spielten sie die Rollen, die ihnen das Schicksal (der tödlichste aller Regisseure), in einem Theaterstück zugewiesen hatte, wo das nackte Überleben schon eine schwärmerische Rezension wert gewesen wäre. Beiden fiel es schwer, und ganz besonders litten sie unter der Notwendigkeit, genau die richtige Mischung aus Misstrauen, gezügelter Feindseligkeit und vorsichtiger Zusammenarbeit auszustrahlen. Trotzdem blieb ihnen nichts anderes übrig als zu lernen, ihre Rollen immer besser zu spielen.
»Hmmmm …« Sie brach den Kuss ab und sank in seinen Arm, blickte zu ihm hoch und schenkte Giscard ein strahlendes Lächeln. Dieses Lächeln hätte jeden zu einem erstaunten Kopfschütteln verleitet, der sie je in ihrer Verkleidung als Volkskommissarin gesehen hatte: In dieser Rolle nämlich entging ihren kühlen, leidenschaftslosen Topasaugen keine Bewegung. Manchmal überraschte das selige Lächeln selbst Giscard, denn als sie sich dreieinhalb T-Jahre zuvor kennen lernten, hatte er sich von ihrer Maske täuschen lassen wie jeder andere.
»Ich bin ja so froh, wieder im All zu sein«, seufzte sie, schlang einen Arm um ihn und legte den Kopf an seine Schulter. Er zog sie enger an sich, dann schlenderten sie zur kleinen Couch vor dem Schreibtisch und ließen sich nieder. Giscard küsste den Scheitel ihres duftenden Haars. Seine Nasenflügel blähten sich. Wie er diesen Duft liebte.
»Ich auch«, versicherte er ihr, »und das nicht nur, weil wir dadurch wissen, dass wir offiziell von der Schwarzen Liste gestrichen sind.« Er küsste sie noch einmal, und sie kicherte. Der helle, silbrige Laut klang melodisch wie das Läuten eines Glöckchens und bezauberte Giscard immer wieder. Das Lachen war so fröhlich und ansteckend, dabei kam es von jemandem mit ihrer Vergangenheit und ihren beachtlichen schauspielerischen Fähigkeiten. Die Spontaneität dieses Lachens war für ihn einzig und höchst wertvoll.
»Wie gut, wieder Oberspionin und Admiralsspitzel zu sein«, stimmte sie ihm zu, und beide wurden ernst. Nach ihrer Rückkehr aus Silesia war es für Pritchart noch heikler geworden, Giscard offiziell zu beurteilen. Einerseits musste sie seine ausgezeichneten militärischen Fähigkeiten herausstellen und die Schuld für den Fehlschlag der Handelsstöreroperationen von ihm abwenden, ohne gleichzeitig als misstrauische Wächterin aus der Rolle zu fallen. So weit sie beide wussten, verließen sich Oscar
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