Honor Harrington 9. Der Stolz der Flotte
ich nehmen Sie gern für die Nacht auf. Außerdem hat er ziemlich viel über Ihren letzten Zug nachgedacht«, fuhr sie fort, als Tremaine sie anblickte. »Commander Caslet und er glauben, eine Möglichkeit gefunden zu haben, wie sie sich doch noch aus der Schlinge winden.«
Honor musste sich beherrschen, um nicht das Gesicht zu verziehen. Kein einziger Gefangener in Camp Inferno setzte jemals das ›Bürger‹ vor Warner Caslets Rangbezeichnung. Obwohl keiner von ihnen sich so recht mit dem Gedanken anfreunden konnte, dass ein volksrepublikanischer Raum-Offizier in ihrer Mitte weilte, reagierten sie doch nicht so feindselig, wie Honor befürchtet hatte. Offensichtlich gab es unter den politischen Häftlingen auf Hell so viele legislaturistische Ex-Offiziere, dass die Kriegsgefangenen sich auf ein ›Leben und leben lassen‹ verständigt hatten. Honor vermutete sehr, dass die Bezeichnung für die Systemsicherheitler – ›Schwarzbeine‹ nach den schwarzen Hosen der SyS-Uniform – vor allem dem Bedürfnis der Gefangenen entsprungen sei, zwischen dem echten Feind und den Havies zu unterscheiden, die ihr Schicksal teilten. Dennoch gingen die Bewohner Infernos in Bezug auf Caslet keinerlei Risiko ein. Zwar behandelte man ihn höflich, insbesondere nachdem Honors Leute den ein oder anderen Gefangenen beiseite genommen und ihm erklärt hatten, wie dieser bestimmte Havie auf Hell gelandet war, aber man ließ ihn nicht aus den Augen. Und es gab besondere Gründe dafür, dass man ihn gerade in die Hütte gelegt hatte, die Benson und Dessouix teilten.
»Jetzt verbünden sie sich also schon gegen mich, Ma’am?«, wandte sich Scotty mit einem Grinsen an Benson, ohne zu wissen, was seine Kommandantin dachte. »Auf jeden Fall irren sie sich! Ich wette, ich weiß schon, was sie sich ausgedacht haben, und sie sind trotzdem matt in sechs Zügen!«
»Verletzen Sie ihre Gefühle nicht allzu sehr, Scotty«, riet Honor ihm. »Wie ich gehört habe, ist Lieutenant Dessouix recht versiert im unbewaffneten Kampf.« Und das war einer der besonderen Gründe, aus denen Caslet bei ihm und Benson schlief.
»Pah! Wenn er es nicht vertragen kann, dass seine Gefühle verletzt werden, dann hätte er mich in den ersten beiden Spielen nicht dermaßen fertig machen sollen, Ma’am!«, gab Tremaine augenzwinkernd zur Antwort, salutierte vor den Vorgesetzen und verschwand in die Nacht.
»Unterhaltsamer junger Bursche«, bemerkte Ramirez mit seiner sonoren, grollenden Stimme, worauf Nimitz, der auf dem Tisch aus handbehauenen Planken lag, amüsiert und zustimmend bliekte. Benson streckte die Hand aus und kraulte ihn zwischen den Ohren, und laut schnurrend hob er ihr den Kopf entgegen.
»Das ist er«, sagte auch Honor und beobachtete, wie Nimitz von Benson verwöhnt wurde.
Der ‘Kater hatte augenblicklich sämtliche Insassen Camp Infernos in seinen Bann gezogen und sie mittlerweile ausnahmslos um den kleinen Finger gewickelt. Natürlich gab es für ihn diesmal mehr Gründe als gewöhnlich, so charmant zu sein, wie es seinem Naturell entsprach: Durch den Verführungsprozess erhielt er – und daher auch Honor – Gelegenheit, die Gefühle jedes einzelnen Menschen im Lager zu sondieren. Seelisch wandelten einige Häftlinge tatsächlich am Rande des Abgrunds, gefährlich labil nach den langen, hoffnungslosen Jahren auf Hell. Honor hatte mit Benson und Ramirez über ihre Vorbehalte in Bezug auf diese Menschen gesprochen, doch nur ein einziger der 612 Insassen Camp Infernos erwies sich schließlich als Sicherheitsrisiko.
Honor hatte mit einem schicksalsergebenen Nicken zur Kenntnis genommen, dass es den Havies doch gelungen war, einen Agenten in Camp Inferno zu platzieren. Die Insassen des Lagers, allen voran Benson, zeigten sich sprachlos und geschockt. Der Betreffende war der Lagerspezialist für das Spinnen und Weben des örtlichen Äquivalents zum Flachs und stellte das Gewebe her, aus dem Dessouix und seine beiden Helfer die Kleidung der Häftlinge herstellten. Das machte ihn zu einem lebenswichtigen Rädchen in der kleinen, überlebensorientierten Gesellschaft des Lagers, und die meisten anderen Sträflinge hatten ihn als Freund betrachtet. Die Enthüllung, dass er ein SyS-Agent war und allein deswegen im Lager weilte, um ihr Vertrauen auszunutzen, hatte mehr als ausgereicht, um seine Mitgefangenen zu mörderischer Wut anzustacheln.
Nur dass er eigentlich gar kein ›Agent‹ war; er war nur ein Informant. So graduell dieser Unterschied sein
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