Hopp! Hopp! Es geht weiter. Vom Glück und Unglück eines Reiseleiters im Wilden Westen
Welche Gruppe? Genau da liegt das
Problem. Die Nachbarn sind längst der Überzeugung, ich sei geistig verwirrt
oder leide unter Verfolgungswahn. Aber damit muss ich wohl leben. Die haben schließlich
keine Ahnung, wie schwer so ein Entzug sein kann. Umgekehrt ist es
komischerweise ganz anders. Fängt die Saison nach vier oder fünf Monaten Pause
wieder an, bin ich von heute auf morgen voll im Takt. Der Saisonbeginn ist
aufregend und alle Reiseleiter, die ich unterwegs treffe, sind frisch erholt
und mit viel Elan am Werk. Von März bis Juni bereitet die Arbeit wirklich
Freude. Im Juli und August wird’s dann schon schwieriger. In Deutschland haben
die Sommerferien begonnen und anstelle der älteren Urlauber befinden sich in
diesen Monaten viele Familien mit Teenagern an Bord. Im September bewegt sich
der Energiepegel der Reiseleiter bereits im unteren Drittel, und im Oktober
kriechen alle auf dem Zahnfleisch. Auch meine Nerven liegen blank. Ein einziges
falsches Wort kann bereits einen Nervenzusammenbruch auslösen. Trotzdem ist der
Herbst noch besser zu bewältigen als der Sommer. Zumindest sehe ich im Oktober
Licht am Ende des Tunnels. Zwar schwöre ich mir in der Endrunde regelmäßig, nie
wieder in einen Bus zu steigen, aber mit dem Winter kommt die Ruhe und auch das
Fernweh meldet sich spätestens um die Weihnachtszeit zurück. Ich werde oft
gefragt, ob es nicht langweilig ist, immer wieder die gleichen Strecken zu
fahren und immer wieder dieselben Orte zu besuchen. Statt eine Antwort zu
geben, zitiere ich gern einen Ausspruch des Schriftstellers John Steinbeck:
„Jede Reise ist wie ein eigenständiges Wesen; keine gleicht der anderen.“ Die
meisten Menschen fahren jeden Tag dieselbe Strecke zur Arbeit und sitzen immer
am selben Platz im selben Buero. Ich hingegen habe unheimlich viel Abwechslung.
Fast jeden Tag wache ich an einem anderen Ort auf. Und jede Gruppe entwickelt
ihre eigene Dynamik. Ich habe jedenfalls noch keine Reise geführt und
anschließend gesagt:
„Mann, war das
langweilig!“
Im Gegenteil.
Die Spannung bleibt bis zur letzten Minute. Denn: Unverhofft kommt oft. Bei
einer Rundreise Mitte der neunziger Jahre sollte ich diese Lektion ein für alle
Mal lernen.
Während
unseres Aufenthalts in San Francisco kam es zu einem logistischen Problem
seitens der Transportfirma. Bus und Fahrer mussten kurzfristig getauscht
werden. Besonders gegen Ende einer Reise sorgt so ein Tausch für Unruhe, da der
eingespielte Rhythmus jäh unterbrochen wird. Zu allem Übel schickte das
Busunternehmen einen mir gänzlich unbekannten Fahrer als Ersatz. Ich bemerkte
schnell: Der Mann kennt sich nicht aus. Bereits am ersten Tag mit unserer
Gruppe verzettelte er sich gleich mehrmals. Dazu kam sein eher ungepflegtes
Äußeres, was auch den Gästen auffiel und immer wieder für Kommentare sorgte.
George trug einen zotteligen Rauschebart und hatte maßlos fettige Haare, die
ihm in langen Strähnen auf der Stirn klebten. Im Bus neben dem Fahrersitz stand
eine Pappschachtel mit kalten Chicken Wings , frittierten Hühnerflügeln.
Jedes Mal, wenn er davon gegessen hatte, rieb er sich die öligen Hände an
seinem Hemd ab. Da die Rundreise kurz vor ihrem Ende stand und ich nicht noch
einen Fahrerwechsel provozieren wollte, sah ich davon ab, meine Agentur über
diesen Missstand zu informieren. Immerhin war die Tour bis zu diesem Zeitpunkt
gut gelaufen und es hatte keine nennenswerten Zwischenfälle gegeben. Auf halber
Strecke zwischen San Francisco und Los Angeles übernachteten wir in San Louis
Obispo, einer Universitätsstadt in Küstennähe. Unmittelbar nach der Ankunft im
Hotel besprach ich mit Chicken-George den Tagesplan für unseren letzten
Streckenabschnitt. Wir vereinbarten die Abfahrtszeit für acht Uhr am Vormittag.
Dementsprechend sollte der Fahrer seinen Dienst eine Stunde vorher beginnen und
den Bus mit Gepäck beladen.
Das
Hotelpersonal legte pünktlich mit der Abholung der Koffer aus den Zimmern los.
Ich platzierte mich vor dem Portal, um alle Gepäckstücke einzeln abzuhaken. Das
ist Teil meines morgendlichen Rituals. So bin ich sicher, dass keiner der
Koffer versehentlich zurück bleibt. Alles lief wie am Schnürchen, nur von
unserem Fahrer und seinem Bus fehlte jede Spur. Da wir Mitte der Neunziger noch
nicht mit mobilen Telefonen ausgestattet waren, beauftragte ich einen
Empfangsmitarbeiter, Chicken-George in seinem Zimmer anzurufen. Er nahm nicht
ab. Also machte ich mich höchstpersönlich auf, den Mann
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