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Hoppe

Hoppe

Titel: Hoppe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Hoppe
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Verhüller, ein ehrgeiziger Versteckspieler.
    Um die Dinge verstecken zu können, muss man allerdings wissen, wie sie beschaffen sind. Erst dann kommt die alles entscheidende Frage: Wie korrigiert man die kleinen Missgriffe Gottes? Mein Vater wusste genau, wie das geht, weil er nicht nur Erfinder, sondern ein Künstler war, der verbesserte, was sich verbessern ließ, weil er alles sah und genau wusste, wie man das Auge betrügt. Diese Gabe war sein Gewinn und sein Fluch. Papiere wechselten plötzlich die Farbe, Rucksäcke und Taschen erhielten doppelte Böden (niemand nähte wie er), Pässe schrieben sich wie von selbst um, erhielten neue Besitzer mit neuen Gesichtern und neuen Namen. Alles löste sich in die Hoffnung auf ein neues Leben hin auf, mit neuen Sprachen und Schriften und neuen Ländern und anderen Städten und mit der leisen Verheißung auf baldige Abreise.
    Meine Mutter hielt nichts von Gästen und von den Geschäften, die mein Vater betrieb. Manchmal hörte ich sie leise streiten, sie stritten immer hinter verschlossenen Türen, immer auf Polnisch, weil meine Mutter kein Deutsch sprach. Ich selbst habe sein Labor nie betreten, ich verbrachte meine Tage neben meiner Mutter am Klavier, dort, wo mein Tag jeden Tag begann und wo er auch endete, Tag für Tag war ich die erste und letzte Schülerin meiner Mutter. Dazwischen unterrichtete sie andere Kinder, von denen die meisten erbärmlich spielten, bis auf einen kleinen Jungen mit roten Haaren, der Josef hieß und der Beste war, weshalb meine Mutter ihn liebte und ich mich weigerte, ihm die Hand zu geben. Aber sobald er gegangen war, küsste mich meine Mutter fest auf den Mund (sie küsste mich gern auf den Mund, während Karl mich immer nur auf die Stirn oder auf die Wangen küsste, als hätten sie mein Gesicht unter sich aufgeteilt) und sagte: Er spielt wirklich gut, aber nur nach Gehör, er kann keine Noten, und wer keine Noten kann, hat nichts begriffen, der Notenschlüssel ist der Schlüssel zur Welt, du hast ihn, er hat ihn nicht.
    Karl dagegen behauptete, es gäbe weder einen Schlüssel zur Welt noch einen Schlüssel zum Leben, einen Notenschlüssel schon gar nicht, nichts als ein luftleeres Zeichen im Raum, genau wie die Musik. Denn mein Vater spielte, von der Blockflöte abgesehen, kein einziges Instrument, auch die Flöte nur frei, das heißt ohne Noten, nur nach Gehör. Überhaupt, die Musik, diese ständige Übertreibung der Töne. Aber das sagte er nur, weil Maria inzwischen begonnen hatte, abends auszugehen, um irgendeinen Grushenko zu treffen. Und hätte der sie nicht mitgenommen, dann säßen Maria und Josef und Karl und ich womöglich noch heute in dieser kleinen Wohnung in Breslau, in der es kein Telefon gab und wo die Nachbarn gegen die Wände schlugen, weil das Klavierspiel unerträglich war. Aber meine Mutter, und dafür liebte ich sie, kümmerte sich nicht um das Klopfen und Schlagen, sondern hielt den Blick in die Ferne gerichtet. Sie hatte sehr gute Augen und konnte vermutlich bis Warschau sehen, vielleicht noch weiter, sagen wir mal bis Moskau, während sie mit der rechten Hand unermüdlich die Seiten umblätterte und in der linken eine kleine silberne Stimmgabel hielt, die sie nicht brauchte, schließlich hatte sie das absolute Gehör.
    Wo auch immer du steckst, ich werde dich finden, egal mit welchem Pass und mit welchem Grushenko du unterwegs bist. Du musst nichts sagen, auch nichts erklären, wenn wir uns nach all den Jahren wiedersehen, du musst mich nur küssen. Denn sobald du mich küsst, bin ich wach und erkenne dich wieder, und für den Fall, dass du mich nicht küssen willst, weil ich längst erwachsen geworden bin oder weil du zu alt geworden bist, um überhaupt noch zu küssen, werde ich dich trotzdem erkennen, selbst dann, wenn du sie längst nicht mehr in der Hand hältst – ich werde dich trotzdem an der Stimmgabel erkennen, die du heimlich in der Innentasche deiner Handtasche verstaut haben wirst, weil du dich beim besten Willen nicht von ihr trennen konntest, genauso wenig wie von mir.
    Ich weiß längst, dass man mir das alles nicht abnehmen wird, denn im Lauf der Erzählung ist die Zeit so weit fortgeschritten, dass meine Erinnerungen kaum überprüfbar sind, weshalb mir nichts anderes übrigbleibt, als ihnen einfach Glauben zu schenken. Schließlich war ich damals nicht älter als vier, und an was erinnert man sich schon mit vier? Immerhin vier. Kindheiten zwischen null und drei, das ist wissenschaftlich

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