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Hoppe

Hoppe

Titel: Hoppe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Hoppe
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erwiesen, sind reine Erfindung, aber ab vier geht es aufwärts, plötzlich ist man dabei und weiß genau, dass der einzige Tag in der Woche, an dem meine Mutter keine Schüler empfing und an dem sie nicht am Klavier saß, der Sonntag war. Der Sonntag gehörte uns ganz allein, ihr und mir, denn sonntags gingen wir zusammen zur Kirche.
    Ich liebte meine Mutter, und ich liebte die Kirche, weil sie mir jene wenigen Stunden bescherte, in denen ich mit ihr allein sein durfte, weil mein Vater sich weigerte mitzukommen, was mir eine geheime Freude verschaffte, weil ich in einen Raum entführt wurde, in dem nichts zu erfinden war, weil alles schon da war, ein Raum, der uns kurzfristig allein gehört und vom Alltag erlöst. Nach wie vor bin ich davon überzeugt, dass man jene kleine Kirche in Breslau einzig und allein für uns gebaut hat, dass sie uns bis heute gehört, dass wir die Einzigen sind, die sie bewohnen, selbst dann, wenn andere Leute kommen. Und immer kommen andere Leute, seltsame Leute, die sich gelegentlich unvermutet der Länge nach auf den Boden werfen, auf einen polnischen Boden, der ziemlich kalt ist (ich hatte andauernd kalte Füße, aber kalte Füße gehören dazu, sagte meine Mutter), vermutlich eine Art Hofstaat, weil meine Mutter eine Königin ist (ich folglich eine Prinzessin), weshalb ich wünschte, die Sonntage würden niemals vergehen, jeden Tag würde Kirche sein, für immer und ewig.
    Selbst heute, wenn die dunklen Momente kommen, die schließlich in jedem Leben der Fall sind, wenn also diese Momente kommen, wünsche ich mir, meine Mutter würde sich zu mir herabbeugen, mit jenem Buch in der Hand, dessen Texte ich nie entziffern konnte, aber immer noch sämtlich auswendig kann, auch wenn ich bis heute ihren Sinn nicht begreife. Aber wen kümmert der Sinn, wenn die Tonlage stimmt, wen kümmert das Wort, wenn die Stimme die einzig richtige ist, die ein für alle Mal in einer Melodie aufgeht, die mir sagt, dass wir am richtigen Ort sind, wo sich, sobald man den Blick nach oben richtet, Engel unter der Decke zeigen, keine Kunst natürlich, aus heutiger Sicht ziemlich dilettantisch gezeichnet, mit nichts als der reinen Einbildungskraft, aber jeden Sonntag wurden es mehr, ich habe sie jeden Sonntag gezählt. Und als mir das Zählen zu langweilig wurde, begann ich, sie schlicht und einfach zu taufen, einen nach dem anderen, jeder bekam seinen eigenen Namen, eine ganze Litanei von Namen, die ich noch heute aufsagen kann und immer wieder von vorn aufsage, wenn die Stimmungen kommen. Und wenn das nicht reicht, weil man von Engeln zwar Trost, aber keine Wunder erwartet, wenn also die Engel nicht reichen, fange ich einfach zu singen an.
     
    Ich fange einfach an zu singen. Jene Melodie, die Lucy auf Anhieb erkannte und die GG (gemeint ist vermutlich Glenn Gould/fh) im Schlaf sang, immer wieder von vorn, obwohl er schon damals keinen Schlaf mehr fand, weil er besser als alle anderen wusste, was es bedeutet, wenn die Stimmungen kommen. Weshalb er auch besser als andere weiß, was es mit dem Telefon auf sich hat, dieser schönsten und größten Erfindung von allen. Denn wenn statt des Schlafes die Stimmungen kommen, hilft kein Klavier, keine Orgel, auch nicht Ellenbogen in warmes Wasser gelegt, keine Frau, kein Arzt, kein Angelausflug, kein Fisch am Haken, ein Picknick schon gar nicht. Auch nicht diese endlosen Autofahrten, Mäntel und doppelt gestrickte Schals und der Gedanke an den ewigen Norden
(The Idea of the North)
, an jene Landschaft, die, egal wie lange und wie weit wir auch gehen, niemals aufhören wird, wo unter Schnee und Eis, wie wir leichtfertig glauben, endlich alles zur Ruhe kommt.
    Denn in Wahrheit kommt unter Schnee und Eis überhaupt nichts zur Ruhe, weil der Schnee zwar das Auge, aber nicht das Herz beruhigt. Und schon gar nicht die Stimmungen, die unter der weißen Oberfläche beharrlich weiterwandern. Ein ständiges leises Klopfen und Schlagen, die Motive sind übrigens immer dieselben: ›So darf man nicht gehen.‹ und ›Denkst du an mich?‹ und ›Schreibst du mir auch?‹ und ›Wann sehn wir uns wieder?‹ Dagegen hilft einzig das Telefon, die tröstlichste Erfindung von allen, die, gestimmt auf ein reines A, keine Zeitverschiebung mehr kennt. Endlich ist alles aufgehoben, man nimmt einfach den Hörer ab und hört immer wieder den einzigen Ton, auf den wirklich Verlass ist.
    Nur dass, sooft ich auch wähle (immer wieder dieselbe Nummer, die ich längst auswendig kann), am anderen Ende

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