Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
paar Tage ging alles seinen gewohnten Gang. George machte sich beim ersten Morgenlicht auf den Weg zur Bäckerei und ich ging in die Obstgärten. Wir frühstückten zwar zusammen, redeten dabei aber nie viel, weil wir zu müde waren und die Zimmer zu kalt. Der Winter stand vor der Tür und alle gingen davon aus, dass er hart werden würde. Jamie blieb im Haus, und soweit ich es beurteilen konnte, tat er nicht viel, außer sich auszuruhen und wieder zu Kräften zu kommen.
Ich wollte zu gern mit ihm reden und mehr über ihn erfahren. Ich kehrte sogar noch einmal zur Kirche zurück und ging ein paarmal durch die Tür, um herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Aber zu einer vernünftigen Unterhaltung kam es nicht. Wir waren fast nie allein und Jamie hielt immer noch an seiner Amnesie-Geschichte fest, obwohl ich überzeugt war, dass sie nicht stimmte.
Und dann kam der Abend der Versammlung. Es war praktisch jeder gekommen. Es bestand Anwesenheitspflicht, es sei denn, man war krank oder auf Außenwache, aber es wollte ohnehin niemand eine Versammlung verpassen. Wir alle hatten ständig Angst, mal mehr und mal weniger. Deswegen brauchten wir einander. Wir mussten uns gegenseitig Mut machen.
Die Versammlung begann mit dem üblichen Kram. Die gesamte Ernte – vom Weizen über die Äpfel bis hin zu den wilden Brombeeren von den Wegrändern – war eingebracht, und obwohl sie erneut geringer ausgefallen war, würde es zum Überleben reichen. Die alte Mrs Brooke war endlich gestorben und niemand würde sie vermissen. Sie war eine ganze Weile dement gewesen, ständig in die Kneipe und wieder hinaus gewandert und hatte dabei laute Beschimpfungen geschrien. Bewerber für ihr Haus konnten sich in die Liste eintragen. Es wurden noch Freiwillige gesucht, die Brennholz für den Winter sammelten. Es sah aus, als würde es mehr Schnee geben als je zuvor, und die Holzvorräte waren bedrohlich zusammengeschmolzen.
Zum Schluss betrat Reverend Johnstone die Kanzel.
„Meine Freunde“, begann er. So nannte er uns immer, obwohl er am Ende seiner öden Predigten meistens kaum noch Freunde hatte. „Ich habe eine überaus interessante Neuigkeit für euch. Viele von euch erinnern sich sicher noch daran, wie der Reisende vor sieben Jahren bei uns aufgetaucht ist und wir ihn willkommen geheißen haben. Nun, jetzt ist ein weiterer Besucher gekommen, diesmal ein junger Mann, der ungefähr fünfzehn Jahre alt sein dürfte. Sein Name ist Jamie Tyler und er kam durch den Wald zu uns, nachdem man ihn schwer verletzt hatte. Er hat sein Gedächtnis verloren und kann uns nicht sagen, woher er kommt, aber aufgrund seines Alters und der Tatsache, dass er unbewaffnet und allein kam, hat der Rat entschieden, ihn bei uns bleiben zu lassen.“
Das war Jamies Stichwort. Er stand auf, um sich den Leuten zu zeigen – und man sah ihm seine Nervosität an. An seiner Stelle wäre ich ebenfalls nervös gewesen. Immerhin war er nur einer gegen dreihundert von uns, die ihn ängstlich, neugierig oder ungläubig anstarrten. Auf eine Sache konnte man sich in unserem Dorf verlassen -es passierte nie etwas Unerwartetes und es kam nie jemand. Dass Jamie jetzt plötzlich auftauchte, war genauso unfassbar, als wären die Wolken auf einmal grün oder als könnten die Schweine sprechen. Es war absolut schockierend. Und dabei spielte es keine Rolle, dass er nur ein dünner Junge mit langen Haaren und einer Narbe an einer Kopfseite war. Er war trotzdem eine Bedrohung für alles, was das Dorf ausmachte.
Aber der Rat hatte entschieden, und obwohl viel gemurmelt wurde, gab es keine offene Feindseligkeit. Jamie hielt eine kurze Ansprache. Er dankte allen, dass sie ihn aufgenommen hatten (was sie eigentlich gar nicht hatten), und versprach, hart für das Dorf zu arbeiten. Ich beobachtete ihn, während er sprach. Dann warf ich einen Blick zur Seite und musste feststellen, dass George mir dabei zusah, wie ich Jamie betrachtete. Er wirkte nicht erfreut, und als ich dann noch hörte, dass Jamie in der Bäckerei arbeiten und dort die Öfen befeuern und putzen sollte, hatte ich das dumme Gefühl, dass das keine gute Idee war.
Doch das war noch nicht alles. Wir blieben noch in der Kirche, die Leute standen zusammen und unterhielten sich gedämpft und ignorierten Jamie, der allein in der Nähe der Tür herumstand. Ich wollte zu ihm gehen, als plötzlich der Reisende neben mir auftauchte. Ich glaube, dass er in den ganzen Jahren kein einziges Wort zu mir gesagt hatte, doch jetzt
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