Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
sprach er mich an.
„Der Junge wohnt bei dir.“
„Das stimmt.“
„Natürlich. Du warst es ja, die ihn gefunden hat.“ Der Reisende warf einen Blick in Jamies Richtung. „Ist er durch die Tür gekommen?“, fragte er.
Ich zögerte. „Wie bitte?“
„Du hast mich verstanden.“
„Er war in der Nähe der Tür – aber ich glaube nicht, dass er hindurchgegangen ist.“ Wieso log ich den Mann an? Wieso hatten wir überhaupt diese Unterhaltung?
Der Reisende sah mich neugierig an. Ich war ihm noch nie so nahe gekommen und erkannte jetzt, dass er jünger war, als ich vermutet hatte – ungefähr dreißig, und wenn er sich richtig rasiert und etwas gepflegt hätte, würde er sogar recht gut aussehen.
„Bist du seine Freundin?“, fragte er mich.
Die Frage irritierte mich ein wenig. „Ja, ich denke schon“, sagte ich.
„Dann pass auf ihn auf, Holly. Wache über ihn. Er ist wichtig.“
Er drehte sich um und ging und ich war verwirrter als jemals zuvor.
Im Laufe der nächsten Tage versuchte ich, Jamie besser kennenzulernen, doch das erwies sich als schwierig. Er durfte jetzt das Haus verlassen. Er konnte sich unter die Dorfbewohner mischen. Das bedeutete jedoch, dass ich ihn noch seltener sah als vorher, und irgendwie erwischte ich ihn nie allein. Da wir beide arbeiteten, waren wir den Großteil des Tages voneinander getrennt, und da er immer früher oder später nach Hause kam als ich, konnten wir auch nie zusammen heimgehen.
Wäre ich nicht so dämlich gewesen, hätte ich natürlich gemerkt, dass er mir absichtlich auswich. Ich war der einzige Mensch, der wusste, dass seine Geschichte gelogen war – zumindest der Teil mit dem Gedächtnisverlust. Jamie ging mir aus dem Weg, weil er nicht wollte, dass ich ihm Fragen stellte. Er wollte mir nicht die Wahrheit sagen.
Das brachte mich wieder zu der merkwürdigen Unterhaltung mit dem Reisenden. Er wusste von der Tür, also musste er auch etwas über Jamie wissen. Ich überlegte ernsthaft, nach der Arbeit zur Lady Jane zu laufen und ihn auszufragen. Aber ich war noch nie bei dem alten Hausboot gewesen. Ich schätze, das war niemand aus dem Dorf. Eigentlich lag es auch nicht mehr im Dorf, sondern außerhalb. Wenn ich dort auftauchte, wäre der Reisende sicher nicht begeistert.
Ich sah Jamie jeden Abend beim Essen und versuchte, ihn spüren zu lassen, dass ich auf seiner Seite war, indem ich neben ihm saß, besonders nett zu ihm war und solche Dinge. Um ehrlich zu sein, war das Abendessen immer etwas schwierig. Früher hatte es Fernsehen und Zeitungen gegeben und Themen, über die man sich unterhalten konnte. Jetzt gab es nur noch das Dorf. Ich hatte immer noch eine PlayStation in meinem Zimmer und wünschte mir nichts mehr, als sie einzustöpseln, anzuschalten und mich darin zu vertiefen, aber ohne Strom war das Ding nur nutzloser Abfall und ich wusste nicht einmal, warum ich es überhaupt aufhob. Im Lager neben dem Gemeinschaftshaus gab es einen Generator für Notfälle – wie zum Beispiel, als Dr. Robinson krank wurde und Tag und Nacht gepflegt werden musste. Miss Keyland hatte uns den Generator im Rahmen eines Schulprojekts gezeigt. Aber tatsächlich hatte ich in meinem ganzen Leben höchstens ein halbes Dutzend Mal elektrisches Licht gesehen.
Ich war nett zu Jamie. Das war alles. Und als ich eines Abends von den Obstgärten nach Hause kam und sah, wie Mr Christopher – der Bäcker – und Mike Dolan das Haus verließen, wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Ich rannte hinein und traf zuerst auf George, der mit einem blauen Auge und einer blutigen Nase auf einem Stuhl saß. Das Blut war bereits getrocknet und hob sich rotbraun von seiner mehlbestäubten Haut ab. Jamie saß ihm gegenüber mit einer Risswunde an der Lippe und einem zerrissenen Hemd. Rita stand wutschnaubend mit verschränkten Armen zwischen ihnen. John drückte sich verstört in einer Ecke herum.
Jamie und George hatten sich geprügelt.
Kämpfe waren im Dorf verboten.
„Was ist passiert?“, fragte ich.
„Er hat angefangen“, sagte George und warf Jamie einen bösen Blick zu.
„Das ist nicht wahr“, widersprach Jamie und sah mich an.
„Es spielt keine Rolle, wer von euch angefangen hat“, fuhr Rita die beiden an. „Geht das nicht in eure Dickschädel? Seht euch doch an! Ihr seid voller Blut. Ihr werdet beide bestraft werden.“
„Ich habe nicht angefangen“, sagte Jamie. „George hat es schon darauf angelegt, seit ich hergekommen
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