Horowitz, Anthony - Die fuenf Tore 5 - Zeitentod (Das Finale - Teil 1)
ins Gesicht geschrieben.
Doch bevor sie fortfahren konnte, sprach Sir Ian. „Alles in allem würde ich sagen, dass wir mehr Zeit brauchen. Ich stimme Mr und Mrs Flint und Reverend Johnstone zu. Es könnte gefährlicher sein, den Jungen an die Behörden zu übergeben, als ihn hierzubehalten.“
„Wieso töten wir ihn nicht einfach?“, fragte Dolan. „Wir haben schließlich Gesetze. Und das ist es, was wir mit Eindringlingen machen …“
„Schäm dich, Dolan!“ Rita war aufgesprungen und ich hatte sie noch nie so wütend erlebt. Sie hatte ganz vergessen, wo sie war. „Er ist höchstens fünfzehn, jung genug, um dein Sohn sein zu können, und du redest davon, ihn umzubringen wie ein Tier. Wenn wir so etwas zulassen, hat das Dorf es vielleicht gar nicht verdient zu überleben!“ Sie holte tief Luft. „Er kann bei mir wohnen, wenn der Rat es erlaubt. Ich bürge für ihn und sorge dafür, dass er das Haus nicht verlässt … zumindest nicht, bis er sich der Bürgerversammlung gestellt hat. Und was dich betrifft, Michael Dolan, ich weiß noch, wie du in seinem Alter warst.“ Sie deutete mit einem Kopfrucken auf Jamie. „Du warst damals grausam und boshaft und es ist eine Schande, dass du nicht zu einem besseren Menschen herangewachsen bist. Und jetzt ist es schon spät und ich will ins Bett. Also, wie lautet die Entscheidung?“
Es wurde noch eine Weile weiterdiskutiert. Sir Ian war offensichtlich sauer, dass seine heilige Ratssitzung ein zweites Mal gestört worden war, aber schließlich erklärten sie sich einverstanden. Miss Keyland brauchte nicht einmal mehr abzustimmen.
Und so kam es, dass Jamie Tyler bei uns einzog.
4
In unserem Haus gab es drei Schlafzimmer und jetzt wohnten auf einmal fünf Personen darin, doch Rita hatte bereits eine Lösung gefunden. Sie quartierte Jamie im Badezimmer ein – Dusche und Toilette funktionierten schon seit Jahren nicht mehr – und legte ihm die Kissen von der zweiten Couch auf den Boden. Sehr angenehm war das sicher nicht, aber zumindest hatte er seine Privatsphäre, und Rita sagte, dass Bettler nicht wählerisch sein dürften und dass wir inzwischen schließlich alle Bettler wären (das sagte sie übrigens so oft, dass es eindeutig ihr Lieblingsspruch war).
Es war ein Mittwoch, als Jamie auftauchte … glaube ich. Offiziell gab es keine Wochentage mehr, denn dann hätte es auch Wochenenden gegeben, und da die Arbeit nie ein Ende nahm, wäre das nicht gerade hilfreich gewesen. Aber natürlich hatte jeder eine ungefähre Vorstellung davon, welches Datum wir hatten. So wusste ich zum Beispiel, dass ich demnächst Geburtstag hatte. Aber die meiste Zeit wurden wir absichtlich im Unklaren gehalten.
Auf jeden Fall mussten wir vier Tage warten, bis die nächste Versammlung einberufen wurde, die sich von einer Ratssitzung unterschied, weil bei den Versammlungen alle Dorfbewohner erwartet wurden. Bei dieser sollte Jamie allen vorgeführt werden. Bis dahin durfte er das Haus nicht verlassen, was für uns bedeutete, dass wir ihm nicht aus dem Weg gehen konnten. George und John reagierten unterschiedlich auf unseren neuen Hausgast. John sagte wie gewöhnlich nicht viel, aber ich bekam natürlich mit, wie er ein oder zwei Mal zu Rita hinübersah, als würde er ihr Urteilsvermögen infrage stellen und als machte es ihn nervös, einen Fremden im Haus zu haben. Und was George betraf … er enttäuschte mich. Als ich zum ersten Mal von Jamie erzählt hatte, schien er auf meiner Seite zu stehen, doch jetzt, wo Jamie bei uns wohnte, hatte er seine Meinung geändert.
„Das Haus ist nicht groß genug.“
„George – er bleibt doch nicht für immer hier. Sobald sich das Dorf an ihn gewöhnt hat, wird er eine eigene Bleibe kriegen. Außerdem schläft er im Badezimmer! Ich dachte, du fändest es gut, dass ich ihm geholfen habe.“
„Ich fand es gut, dass du nicht einfach weggegangen bist, als er verletzt war. Und es war gut, dass du ihn nicht an Mike Dolan und Simon Reade verraten hast. Ich kann die beiden nicht ausstehen. Aber das bedeutet nicht, dass du ihn hierherbringen solltest.“
„Das war ich nicht. Das war Rita.“
„Also, das wundert mich. Wenn man an einem Ort wie diesem lebt, sollte man sich möglichst unauffällig verhalten und sich um seinen eigenen Kram kümmern. Und nichts tun, was alle gegen sich aufbringt. Jetzt werden sie über uns reden und du wirst sehen, dass es kein gutes Ende nehmen wird.“
George behielt natürlich recht.
Die nächsten
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