Horror Factory 13 - Epitaph
schäbige, zwanzig Kilometer vor der thailändischen Grenze gelegene Provinzhauptstadt, an deren Tempelfassaden Löwen von Drachen verschlungen wurden und das Wasser knöchelhoch in den schlammigen Straßen stand. Auf dem Weg dorthin ernährte ich mich von Knollen, Früchten und Schoten, schlief in Höhlen, zwischen den meterhohen Wurzeln von Würgefeigen oder in verlassenen, halb verfallenen Gehöften und Tempeln. Aber alle Mühen, Qualen und Entsagungen erwiesen sich letztlich als vergebens, nachdem Naumanns Handlanger mich vergangene Nacht mehr tot als lebendig wieder aufgriffen. Vollgepumpt mit Psychopharmaka, wusste ich nicht mehr, was passiert war und wie es hatte geschehen können. Irgendwann während meiner Odyssee war irgendetwas katastrophal schiefgelaufen. Vielleicht hatte ich die falschen Knollen ausgegraben, die falschen Pilze gegessen oder aus einer der Apotheken die falschen Amphetaminpillen oder Antibiotika mitgehen lassen …
Ich konnte nicht sagen, wer die Schuld daran trug, dass es geschehen war. Womöglich ich selbst, der ich aus dem Institut geflohen war. Vielleicht das Mädchen, das mir einen kurzen Augenblick des Glücks schenken wollte – oder sie , die es nicht zugelassen hatte. Die Erinnerungen verbargen sich hinter dem gnädigen Schleier des Drogengemischs in meinen Adern und der Beruhigungsmittel, die man mir verabreicht hatte, nachdem ich erwacht war und mich wie ein Besessener gebärdet hatte. Dabei konnte ich von Glück sagen, dass ich in Sisophon nicht der Selbstjustiz des Mobs zum Opfer gefallen war.
Liju hatte mich bei meiner Rückkehr ins Institut mit einem Lächeln empfangen und mir als Willkommensgruß mit ihrem blank gewichsten Stiefel in den Unterleib getreten. Halb bewusstlos vor Schmerzen schleiften mich ihre Schergen an den Haaren durch die Gänge und warfen mich erneut in diesen Raum, der zu meinem Zuhause geworden war. Seit wann ich hier festgehalten wurde, wusste ich nicht. Ich war ein Mensch ohne Vergangenheit – und für die Behörden und die Bevölkerung nun wahrscheinlich nicht einmal mehr ein Mensch.
Laut Naumann litt ich an einem irreversiblen neuronalen Defekt, einer sogenannten retrograden Amnesie. Sämtliche Erinnerungen an Dinge, die länger als vier Monate zurücklagen, waren verloren gegangen – inklusive jenen an die Ursache für meinen Zustand. Ich wusste nicht einmal, ob ich wirklich Daniel hieß oder dieser Name in den Akten nur als Platzhalter für einen lebendigen John Doe diente. Niemand hatte mich bis heute darüber aufgeklärt, warum ich hier war. Ich trug keine Narben unbekannter Verletzungen am Kopf bis auf jene, die ich dem ›Pflegepersonal‹ zu verdanken hatte oder mir während dieser Bändigungsaktionen selbst zugefügt hatte. Vielleicht resultierte meine Amnesie aus einer Vergiftung, vielleicht war es aber auch die Folge einer Entzündung, einer Infektion oder eines Aneurysmas, ich wusste es nicht. Das aus medizinischer Sicht Auffälligste, was meinen Kopf von dem meines Gegenübers und jenen der übrigen Menschen um mich herum unterschied, rührte nicht von einem Unfall her und hatte auch keine Narben hinterlassen …
»Warum bist du weggelaufen?«, brach Naumann schließlich das Schweigen. »Haben wir dich etwa nicht gut genug behandelt?« Seine Stimme war für seine Statur zu hoch und kratzig, was an einem verletzten Stimmband lag. »Oder hat dich …« Er bückte sich und schien etwas unter dem Bett zu suchen. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er eine Kakerlake zwischen den Fingern und betrachtete sie im Licht. »… das Essen vergrault?« Er ließ das Insekt fallen und zertrat es mit dem Stiefel. Der Chitinpanzer knackte und knirschte unter seinem Absatz. Naumann wischte seine Schuhsohle an meiner Matratze ab, dann ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen. »Gefällt es dir denn nicht bei uns?«
»Ich lasse mich nicht mehr an dieses Ding anschließen«, antwortete ich leise. »Irgendetwas ist dort drüben …«
»Sicher, mein Junge.« Naumann lächelte. »Deine Vergangenheit, deine Zukunft, alles, was du dir nur wünschst. Du musst es nur aus deinem vernebelten Oberstübchen …« – er legte seine Handkante an seine Stirn und ließ sie vorschnellen – »… in den Memo-Pik projizieren, deinen Gedanken Gestalt geben und ein stabiles Fundament schaffen – als würdest du von innen heraus ein Haus errichten und drumherum einen Park anlegen. Wovor also fürchtest du dich? Hast du Angst, dir selbst zu begegnen? Sogar
Weitere Kostenlose Bücher