Horror Factory - Der Behüter(German Edition)
Selbstverständlich habe ich einen«, erwiderte Rorga lächelnd. »Er ist immer um mich. So wie deiner immer um dich ist; auch in eben diesem Augenblick, hier an diesem Ort. Doch mein Behüter soll unsichtbar bleiben. Ich bin blind. Ich nehme meinen unsichtbaren Behüter so deutlich wahr wie Justine oder Gordion die ihren.«
Justine schaltete sich ein. Ihre Stimme klang ungeduldig: »Hast du das Geld mitgebracht, Alenka?«
Die Priesterin gebot Justine mit einem Wink, zu schweigen. An Alenka gewandt, sagte sie: »Ich möchte dich bitten, dich auszuziehen.«
Alenka zögerte.
»Nacktheit ist hier im Heiligtum wirklich gar nichts Originelles«, bemerkte Justine.
Rorga sagte: »Du bist jung und schön. Ich bin alt und verschrumpelt. Aber ich habe kein Problem damit, mich ebenfalls auszuziehen, wenn dir das hilft.«
Alenka begann die Kleider abzulegen. Bald stand sie splitternackt vor der blinden Priesterin.
Die Priesterin trat nah an sie heran und hob die Hände. Alenka spürte die Berührung dünner, trockener Haut auf der Stirn. Rorga befühlte ihre Schläfen. Ihre Brauen, ihre Wangenknochen. Strich über Kinn und Lippen. Dann wanderten die tastenden Hände abwärts. Verharrten über Alenkas klopfendem Herzen. Glitten über die Glätte ihres Bauches. Fuhren an den Linien ihrer Hüfen entlang.
Rorga trat wieder zurück und schwieg eine Zeit lang. Schließlich sprach sie: »Ich bin sicher, dass du die Prüfung, die das Sakrament bedeutet, durchstehst. Du selbst hältst dich zwar für schwach. Aber ich spüre etwas in dir …« Sie verstummte kurz und fuhr dann fort: »Jeder, der das Sakrament empfangen hat, ist anschließend ein veränderter Mensch, ein stärkerer Mensch, als er es zuvor war. Du hingegen, Alenka, wirst hinterher nicht nur stärker sein. Du wirst sein wie … wie neu erschaffen. Denn du bist eine Erwählte. In dir schlummern Kräfte, von denen du bisher nicht einmal geträumt hast.«
Es war kühl im Gewölbekeller. Alenka schlang unwillkürlich die Arme um ihren nackten Leib.
»Willst du hierbleiben?«, fragte die Priesterin. »Willst du dich der Prüfung unterziehen und das Sakrament der Offenbarwerdung empfangen?«
Eine Gänsehaut bildete sich auf Alenkas Körper. Sie presste die Arme noch enger um sich.
Endlich schenkte sie Justine ein schwaches Grinsen: »Das Geld ist in meinen Hosentaschen.«
An Rorga gewandt, sagte sie: »Das bedeutet Ja! «
*
»Sie ist aufgewacht.« Eine weibliche Stimme.
»Ansprechbar?« Eine andere Stimme. Ebenfalls weiblich.
»Ich glaube schon.« Die erste Stimme .
Sie blinzelte benommen. Ihr Blick erfasste eine lindgrün getünchte Zimmerdecke. Dann sah sie den Ständer mit dem Tropf und den Schlauch, der zu ihrem Arm führte. Die Bettdecke.
»Frau Hatenbur? Verstehen Sie mich, Frau Hatenbur?«
Alenka drehte den Kopf im Kissen. Neben ihrem Bett standen zwei Frauen. Eine trug Schwesternkleidung. Die andere einen Arztkittel.
Die Ärztin sagte betont langsam und deutlich: »Sie sind im Krankenhaus, Frau Hatenbur. Sie hatten einen schweren Unfall mit dem Motorrad.« Die Frau machte eine Pause, damit Alenkas benommener Verstand das Gehörte verarbeiten konnte. Dann fuhr sie fort: »Sie haben großes Glück gehabt, Frau Hatenbur. Sie werden voraussichtlich keine bleibenden Schäden behalten. In Anbetracht der Umstände ist das nichts Geringeres als ein Wunder. Aber ein paar Knochen mussten wir schon flicken.«
Die Schwester teilte der Ärztin mit leiser Stimme etwas mit.
Zwischen den Brauen der Ärztin bildete sich eine steile Falte. »Na gut«, nickte sie widerstrebend. »Aber sie darf nicht reden. Und achten Sie darauf, dass es nicht zu lange dauert.« Damit entfernte sie sich.
»Frau Hatenbur«, sagte die Krankenschwester, »Sie haben Besuch …«
Das lächelnde Gesicht der Schwester verschwand, und ein anderes Gesicht tauchte auf.
Es war bleich und von Narben entstellt. Die Stirn wich zurück, die Wangenkochen sprangen vor. Der Kiefer war quadratisch. Tief im Schatten unter den wulstigen Brauen glitzerten die Augen.
Sie waren hell und kalt wie Schneekristalle.
2
Alenka lehnte die Krücke gegen den Türrahmen. Während sie sich auf die zweite Krücke stützte, fischte sie den Schlüssel aus der Tasche ihrer Trainingshose.
Neben ihr stand der Behüter. Er sah zu, wie sie aufsperrte, den Schlüssel wieder in die Hosentasche schob, mit der frei gewordenen Hand die Klinke niederdrückte und die Tür zur ihrem Patientenzimmer aufstieß. Sodann nahm sie die
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