Horror Factory - Die Herrin der Schmerzen
ihrem Gesicht. »Du bist ein sehr seltsames Wesen, Evelyn Zapfreiter.«
»Für dich immer noch Evi Hamperg«, murmelte sie und küsste ihn.
*
Es war weit nach Mitternacht, Marco hatte ein flaues Gefühl im Magen. Evi bot ihm an, eine kleine und leichte Mahlzeit zuzubereiten. Sie bat ihn, in der Zwischenzeit in der Bibliothek zu warten.
»Du meinst im Esszimmer?«
»Nein. Die Bibliothek schließt direkt daran an. Dort lagere ich die wirklich wertvollen Bücher.«
»Solche, die wertvoller als diese Bibelausgaben nach Martin Luther sind?«
»Es geht nicht immer nur um Geldwerte. Das habe ich heute schon einmal versucht, dir begreiflich zu machen.«
»Verzeih mir.« Er ließ sich von Evi den Weg weisen und betrat die Bibliothek. Ihre Dimensionen raubten ihm den Atem. Der Raum war gut zwanzig Meter lang und sechs Meter breit. Alle Wände waren bis auf eine Höhe von etwa vier Metern mit Bücherborden verstellt, das Zimmer war durch eine weitere Reihe von Regalen, die in der Mitte standen, zweigeteilt.
»Das ist … ist …«
»… eine recht ansehnliche Privatbibliothek«, vollendete sie seinen Satz und fügte ergänzend hinzu: »Eine der wertvollsten Österreichs. Zumindest, wenn es um antiquarische Bücher geht. Kaum eines der hier lagernden achtzehntausend Exemplare wurde nach dem Ersten Weltkrieg gedruckt.«
Achtzehntausend Bücher. Das war eine Zahl, die Marco nicht verstand, die er nicht begreifen konnte.
»Mein Mann hat die Sammlung zu seinen Lebzeiten aufgebaut, ich habe sie weitergeführt und in gewisser Weise ergänzt, wobei ich einige Schwerpunkte setzte.« Evi fuhr mit den Fingern die Reihen entlang. »Ich bemühe mich, die bestmöglichen Bedingungen für die Lagerung der Bücher zu schaffen. Überall hängen Thermostate, die Innentemperatur wird automatisch reguliert. Aber wie ich bereits sagte, gehören Heizung und Klimaanlage repariert.«
Evi deutete in Richtung einer Leseecke, die von zwei Ledersesseln beherrscht wurde, auf dem Tischchen davor stapelten sich Schriften und Bücher. »Warte hier auf mich.«
Marco setzte sich und versuchte seine Gedanken zu sortieren. Seine Blicke wanderten immer wieder über die Regalreihen, kehrten dann zum Beginn der heutigen Nacht zurück, zu Evis wechselndem Verhalten, zu ihrem libidinösen Verhalten, ihrer Obszönität, ihrer Naivität. Er wurde einfach nicht schlau aus ihr.
Er hörte, wie sie den Warmwasserhahn aufdrehte. Gleich darauf erklangen dieselben seltsamen Geräusche wie zuvor. Das Stöhnen und Ächzen schien aus den Wänden zu stammen, aus uralten Heizungsrohren.
Evi kehrte mit Teegeschirr und mehreren belegten Broten zurück, räumte sorgfältig den kleinen Tisch leer und stellte das Geschirr ab, bevor sie es sich ihm gegenüber im Sessel bequem machte. Sie bot ein Bild höchster Ausgeglichenheit und Zufriedenheit, während sie Tee in die Tassen goss.
»Du hast also das ganze Palais voll mit Büchern?«, fragte Marco, nachdem er den ersten Schluck genommen hatte.
»Natürlich nicht, Dummerchen!« Evi lachte glockenhell. »Dieser eine Trakt ist den Büchern und anderem alten Zeugs vorbehalten. Man nennt ihn übrigens den Napoleon-Trakt. Der Franzose soll hier im Sommer 1809 eine Gesellschaft empfangen haben – aber ich schweife ab. In anderen Teilen des Palais habe ich … hm … Kleidung untergebracht. Und Schuhe.«
»Wahrscheinlich genauso viele, wie du Bücher besitzt, nicht wahr?«
Wieder erklang dieses unbeschwerte und fröhliche Lachen. »Nicht ganz, aber fast«, sagte Evi. »Ich habe dir ohnedies eine Führung versprochen. Trinken wir noch einen Schluck, dann zeige ich dir den Rest des Palais. Einverstanden?«
»Jetzt, mitten in der Nacht?«
»Hast du etwa Angst?«
»Nein.« Und ob er die hatte! Marco hasste Dunkelheit. Sie wirkte beklemmend auf ihn. Er benötigte zumindest einen Lichtschimmer, um einen Raum betreten zu können. Irgendwann in seiner Kindheit oder Jugend war etwas geschehen, das ihn traumatisiert hatte. Er konnte und wollte sich nicht mehr daran erinnern, aber es war ein schreckliches Erlebnis gewesen.
»Also dann: auf uns, auf diese Nacht.«
Marco erwiderte den Gruß, nahm einen Schluck vom Tee und tat so, als würde er ihr mit der Tasse aus feinstem Porzellan zuprosten. Der Tee wärmte augenblicklich seinen Magen. Er hatte einen Beigeschmack, der erst nach einigen Sekunden seine volle Blüte entfaltete. Er machte Lust auf mehr, und nur zu gern nahm er das Angebot an, sich nachschenken zu lassen.
Sie saßen
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