Hostage - Entführt
die Unfallstation doppelt besetzt war und wo man die Schreie der Verletzten schon von weitem hören konnte. Hier im Santa Clarita Valley scheint man prima leben zu können, dachte er. Alles, was er in dieser Gegend bis jetzt gesehen hatte, gefiel ihm.
Auf dem Parkplatz vor der Notaufnahme sah er nur drei Privatautos und ein paar Rettungswagen. Um die Ecke allerdings standen vier Ü-Wagen – mit denen hatte Marion schon gerechnet. Er stellte sein Auto in der Nähe des Eingangs ab, und zwar so, dass er später gleich im Vorwärtsgang wegfahren konnte. Dann betrat er das Krankenhaus.
Die Reporter standen in einer dichten Traube an der Tür zur Unfallstation und bedrängten eine Frau im weißen Kittel mit ihren Fragen. Marion hörte zu, bis er aufgeschnappt hatte, dass sie die leitende Ärztin der Notaufnahme war und Dr. Reese hieß. Und dass Walter Smith gerade untersucht wurde. Zwei junge, hübsche Krankenschwestern aus Mexiko mit tiefdunklen Toltekenaugen standen hinter der Rezeption und sahen interessiert zu. Muss wohl sehr aufregend für sie sein, so eine Reportermeute hier zu haben, dachte Marion.
Er ging in die Wartezone und holte sich einen Kaffee am Automaten. Eine Polizistin beobachtete von ihrem Stuhl aus das Geschehen. Ihr gegenüber saß ein junger Latino und wiegte ein Baby, während ein älteres Kind – den Kopf auf den Schoß des Mannes gelegt – auf dem Nachbarstuhl eingeschlafen war. Der Latino wirkte verängstigt, und Marion vermutete, dass seine Frau hier eingeliefert worden war. Das rührte ihn.
»Sieht aus, als hätte man Sie vergessen, was?«
Der Mann blickte kurz hoch. Er schien ihn nicht zu verstehen. Wieder einer, der kein Englisch kann, dachte Marion.
»Traurige Sache«, fügte er hinzu.
Er drehte sich um und schlenderte wieder Richtung Rezeption. An einer Sperre ging ein kurzer Flur ab, hinter dem eine Art Krankensaal lag, dessen Betten durch blaue Vorhänge voneinander abgeteilt waren. Und ein anderer Flur mit Schwingtüren am Ende. Marion wartete an der Sperre, bis ein Pfleger erschien, und lächelte dann scheu.
»Entschuldigung – Dr. Reese hat gesagt, jemand würde mir helfen.«
Der Pfleger sah, dass Reese noch immer von Reportern umringt war.
»Ich wohne direkt neben Walter Smith und soll seine Sachen abholen.«
»Ist das die Geisel gewesen?«
»Ja. Schrecklich, nicht?«
»Was so passiert – kaum zu glauben.«
»Man muss auf alles gefasst sein. Wir machen uns ja solche Sorgen! Die Kinder sind noch immer da drin.«
»Mannomann!«
»Ich soll seine Sachen nach Hause bringen.«
»Gut – ich seh mal, was ich tun kann.«
»Wie geht's ihm denn?«
»Der Arzt wertet gerade die Tomographie aus. Dann wissen wir mehr.«
Marion beobachtete, wie der Pfleger im hinteren Teil des Flurs durch eine Tür verschwand, durchquerte die Sperre und ging so weit den Korridor hinauf, dass die Schwestern an der Rezeption ihn nicht mehr sehen konnten. Dann wartete er, bis der Pfleger mit einer grünen Papiertüte zurückkam.
»Bitte schön! Sie mussten ihm die Kleider vom Leib schneiden – da kann man nichts machen.«
Marion nahm die Tüte und fühlte, dass unten drin Schuhe lagen.
»Muss ich was unterschreiben?«
»Nein, ist schon in Ordnung. Wir sind hier nicht so pingelig. Früher hab ich in Los Angeles gearbeitet – da musste man wegen jeder Kleinigkeit unterschreiben. Hier ist das anders. Kleinstädte sind schon klasse.«
»Danke schön. Gibt's noch einen Ausgang? Ich will nicht wieder an den Reportern vorbei. Die haben mich vorhin schon gelöchert.«
Der Pfleger zeigte auf die Schwingtüren am Ende des Korridors.
»Da durch und links. Am Ende des Flurs sehen Sie einen roten Pfeil zum Ausgang. Dann kommen Sie vorne raus.«
»Nochmals vielen Dank.«
Marion setzte die Tüte an Ort und Stelle auf den Fußboden, um Smiths Sachen zu durchsuchen. Sie enthielt eine Jeans, einen Gürtel, eine Brieftasche aus schwarzem Leder, einen teuren weißen Slip, ein Polohemd, graue Socken, schwarze Tennisschuhe und eine japanische Armbanduhr. Jeans, Hemd und Unterhose waren zerschnitten. Marion tastete die Hose ab, fand aber nur ein weißes Taschentuch. Keine Disketten. Mr. Howell würde enttäuscht sein.
Er klemmte sich die Tüte unter den Arm und ging den Flur entlang an den Betten im Krankensaal vorbei, die alle leer waren. Er fragte sich, wo die Frau des Latinos liegen mochte, ließ diesen Gedanken aber fallen, als er Smith in einem Zimmer am Ende des Korridors entdeckte. Seine
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