Hot Summer
über Mom!“, brüllte Claire. „Wage es nicht, du Arschloch!“
Wenn mein Vater betrunken war, wurde er oft melancholisch oder launisch. Ich hatte ihn sorglos erlebt, selbstmörderisch, mürrisch oder manchmal auch boshaft. Aber er hatte nie jemanden geschlagen. Als er in diesem Moment auf Claire zuging, dachte ich wirklich, er wollte sie schlagen.
„Verdammte Hure eines Bastards.“ Der Alkohol hatte seine Reaktionen verlangsamt, und er stolperte. Mary stellte sich zwischen ihn und Claire. Patricia und ich schoben uns an seine Seite. „Kleine, gottverdammte Hure.“
Wir blieben so stehen – ein Schaubild unserer zerrütteten Familie. Dann drehte er sich um. Seine Arme schwangen herum, trafen Patricia und mich, ohne uns wehtun zu wollen. Er ging zurück an den Tisch und trank den Rest direkt aus der Flasche.
„Wo ist überhaupt deine Mutter? Ist sie wieder weggelaufen?“ Seine gemurmelten Worte waren an die Flasche gerichtet und nicht an jemanden von uns. Aber er drehte sich taumelnd halb herum und wiederholte die Frage. „Also? Wo ist sie?“
„Sie ist in den Supermarkt gefahren“, sagte Mary.
Sein Lachen ließ die Härchen in meinem Nacken sich aufstellen. „Ist sie das? Annie, komm her.“
Ich wollte nicht, aber meine Füße bewegten sich ohne mein Zutun zu ihm hinüber.
„Hilf deinem Dad die Treppe rauf. Ich muss mich hinlegen.“
„Du musst dich erst mal ausnüchtern“, sagte Claire.
Er wirbelte zu ihr herum, streckte aber sogleich die Hand nach meiner Schulter aus, um nicht hinzufallen. Ich taumelte unter dem plötzlichen Gewicht. Fast wären wir beide hingefallen, aber im letzten Moment fing er sich.
„Was hast du gesagt?“, verlangte er mit jener selbstgerechten Empörung des fälschlich angeklagten Mannes.
Claire drehte sich weg. „Nichts.“
Er schaute uns nacheinander an. „Hat sonst noch jemand von euch was Kluges beizutragen?“
Niemand sagte etwas. Er schnaubte verächtlich. „Das habe ich mir gedacht.“
Was haben unsere Eltern nur an sich, dass sie uns mit nur wenigen Worten oder einem Blick wieder in die Kindheit zurückversetzen können? Wir standen damals genauso in diesem Raum, mein Vater lehnte sich auch damals schwer auf meine Schulter, damit ich ihm die Treppe hochhalf. Mary und Patricia hatten sich in die entgegengesetzten Ecken der Küche zurückgezogen. Einen Moment verschwamm alles vor meinen Augen und ich sah sie plötzlich wieder, wie sie in jenem Sommer waren. Kleine Mädchen mit weit aufgerissenen Augen. Jederzeit bereit zu weinen. Aber sie trauten sich nicht.
Claire war nicht da gewesen, in jenem Sommer. Und sie jetzt hier zu sehen erinnerte mich mehr als alles andere daran, dass wir nicht länger Kinder waren. Wir mussten keine Angst haben, unsere Gefühle zu zeigen. Ich hatte keine Angst.
„Komm, Dad. Ich bringe dich nach oben.“
Diesen Weg war ich viele Male zuvor gegangen. Aber dieses Mal war es einfacher, da ich groß war. Im Schlafzimmer führte ich ihn zum Bett, wo er sich mit einem alkoholseligen Seufzer auf die Matratze plumpsen ließ. Seine Beine legte ich auf das Bett, öffnete seine Schuhe und zog sie ihm aus. Ordentlich stellte ich sie in den Schrank.
Er schnarchte nicht, aber sein Atem kam in keuchenden Stößen. Ich ließ die Jalousie herunter, um das Sonnenlicht auszusperren. Dann schaltete ich die Klimaanlage ein, damit es im Raum kühler wurde. Ich war wieder zehn. Acht. Fünf. Ich wartete darauf, dass meine Mutter nach Hause kam und alles wieder gut wurde. Ich wartete, bis er einschlief, damit wir sicher sein konnten, dass er für diesen Abend erledigt war.
„Du warst immer ein gutes Mädchen, Annie.“ Seine whiskyschwere Stimme flutete durch die Dunkelheit.
„Danke, Dad.“
„Es tut mir leid, dass ich Claire angeschrien habe. Du wirst ihr das sagen, ja?“
„Du solltest es ihr selber sagen.“
Er war wieder still.
„Wo ist deine Mutter?“
„Sie ist in den Supermarkt gefahren.“
„Wann kommt sie zurück?“
„Ich weiß es nicht.“
Kalte Luft wehte die warmen Wirbel gegen meine Haut. Die Luft vermischte sich und strich über mich hinweg. Kräuselte sich wie Wasser auf einem See. Wie Strömungen, die mich fortreißen konnten.
„Sie hat mich schon einmal alleingelassen, das weißt du. Erinnerst du dich daran? An jenen Sommer?“
„Ja, ich erinnere mich. Möchtest du eine Decke?“
Er hörte mir nicht zu. Er war in Gedanken weit weg. „Ich liebte diese Frau so sehr. Am liebsten wäre ich für sie
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