Hotel Mama vorübergehend geschlossen
mal gründlich ihre Meinung zu geigen, dann hatte sie sich an ihre eigene Mutter erinnert, die immer regen Anteil an ihrem Ehe- und Familienleben genommen hatte. Was hieß übrigens
hatte? Sie
tat es ja immer noch! Und nicht zu knapp.
Ach ja, die Mutti! Erst jetzt fiel Tinchen auf, daß Frau Antonie (meist kurz Toni genannt) heute gar nicht ›nur mal eben‹ vorbeigekommen war und sogar auf den täglichen Kontrollanruf verzichtet hatte. Ob da irgendwas nicht stimmte? Unsinn, beruhigte sie sich selbst, Mutti weiß ja, daß ich mal wieder Babysitter spielen muß, und wenn etwas passiert wäre, dann hätte Frau Klaasen-Knittelbeek längst Bescheid gesagt; die rief ja schon an, wenn Toni mal später von der Fußpflege kam als vorher angekündigt.
Tinchen setzte sich in ihren Lieblingssessel und griff nach der Programmzeitung. »Immer das gleiche«, murmelte sie, »nur Mist!« Allenfalls der Krimi im Ersten hätte sie interessiert, doch der lief schon seit einer halben Stunde. »Muß ja auch nicht immer Fernsehen sein!« Hatte sie das nicht oft genug ihren Kindern vorgebetet, als die noch Halbwüchsige waren? »Lest lieber ein gutes Buch, davon habt ihr mehr, und nebenbei lernt ihr Orthographie. Julia hat im letzten Aufsatz Reminiszenz mit Eszet geschrieben!«
»So schreibt sich's auch!« hatte die protestiert.
»Ja, aber nicht mit ß, sondern mit zwei Buchstaben wie in Szene.«
»Meine Güte, du bist vielleicht pingelig!«
Kaum zu glauben, daß das alles schon so lange zurücklag, sinnierte Tinchen, in ein paar Monaten würden die Kinder ihrer Kinder eingeschult, und alles ging von vorne los. Ein Glück, daß ich das alles nur noch am Rande mitkriege, morgens im Bett liegenbleiben kann und zu keinem Elternabend mehr muß. Ich weiß gar nicht, weshalb ich mich so davor gefürchtet habe, Großmutter zu werden? Enkel haben gegenüber den eigenen Kindern einen unbestreitbaren Vorteil: Man kann sie jederzeit wieder zurückgeben. Allerdings sollte das möglichst in genauso intaktem Zustand sein, wie man sie bekommen hat. Mit Schrecken erinnerte sich Tinchen an jenes Wochenende im Sommer, als Tim heimlich zum Abenteuerspielplatz entwischt, dort aus dem Baumhaus gefallen war und gerade in der Unfallstation eingegipst wurde, als Ulla und Tobias ihre Sprößlinge abholen wollten. Tanja hatte ihrer Mutter die Ohren vollgeheult, weil sie Bauchschmerzen hatte, und woher die kamen hatte sich herausgestellt, nachdem sie das Auto vollgekotzt hatte. Opa Florian hatte nämlich zum Trost, weil sie keinen so schönen Gipsarm kriegen konnte, seine Enkelin abwechselnd mit Gewürzgurken und Popcorn gefüttert!
Diesmal waren wenigstens die Kinder heil geblieben. Zu beklagen waren lediglich der Verlust eines Toasters sowie der Wollhandschuhe. Nicht zu vergessen allerdings das Seitenfenster vom Kadett. Dieser verdammte Hartgummiball hatte doch tatsächlich einen Sprung über die ganze Scheibe hinterlassen. Das würde zwar die Haftpflicht zahlen, die Frage war lediglich, ob sich eine Reparatur überhaupt noch lohnte. Hatte nicht erst unlängst dieser Mensch von der Werkstatt bezweifelt, ein benötigtes Ersatzteil noch auftreiben zu können? »Versuchen Sie's doch mal im Deutschen Museum!« hatte er mit einem vielsagenden Blick auf ihr Auto vorgeschlagen.
»Ignorant, dämlicher!« schimpfte Tinchen leise vor sich hin. »Der Wagen ist doch erst vierzehn Jahre alt und hat immer seine Pflicht getan!« Nach kurzem Überlegen holte sie den
Medicus
aus dem Bücherschrank, den sie schon dreimal angefangen hatte und bei dem sie nie über das zweite Kapitel hinausgekommen war. Es war ein Buch, das man in Ruhe lesen mußte, möglichst hintereinanderweg in einem Zug und nicht bloß heute mal drei Seiten und nächste Woche wieder. Fangen wir also zum viertenmal an, ermunterte sie sich, kuschelte sich in den Sessel, schlug die erste Seite auf und war nach wenigen Minuten eingeschlafen. Im Traum sah sie den kleinen Rob Cole vor sich und stellte verwundert fest, daß seine Mutter genauso aussah wie Frau Klaasen-Knittelbeek.
Anfangs war Tinchen froh gewesen, als Frau Antonie sich entschlossen hatte, eine Mitbewohnerin in ihr Haus aufzunehmen. Nach dem Tod ihres Mannes war Frau Antonie ziemlich schwermütig geworden, und hätten die Damen vom Canasta-Club sie nicht fast gewaltsam auf den Donaudampfer gezerrt, dann würde sie ihrem verstorbenen Ernst vielleicht sogar schon nachgefolgt sein. Natürlich hatte sie ein Doppelgrab gekauft und sogar schon ihren
Weitere Kostenlose Bücher