Hotel Nirgendwo - Roman
hebe meinen Kopf zum Spiegel und sehe jemand anders, aber das bin ich, im Grunde bin ich schon immer diese junge Frau gewesen. Es steht mir gut, darüber sind sich alle einig. Erst als ich das Haar föhne, sehe ich, wie rot das Rot wirklich ist, wie grün meine Augen sind, wie blass meine Haut und wie breit mein Lächeln. Heute Nacht werde ich nicht schlafen können. Ich werde mich von allen verabschieden und feiern und morgen – ach, an morgen kann ich jetzt nicht denken.
In der Früh stehe ich an der Pforte. Ich fülle ein Abmeldungsformular aus. Der Leiterin sticht meine neue Haarfarbe ins Auge, sie will wissen, warum ich das bloß gemacht habe. Und dann sagt sie, ich werde ihnen fehlen. Ein Rucksack ist auf meinem Rücken, ein zweiter vorne an meiner Brust, auf meinem Kopf ist eine Mütze. Ich rauche vor dem Wohnheim noch eine Zigarette mit einigen Mädchen, die das Wochenende hier verbringen müssen. »Mädels, passt auf euch auf«, sage ich. Vom Fahrer erfahre ich, dass ich im richtigen Bus sitze, dass ich dreißig Minuten fahren werde und er mir die Station nennen wird, an der ich aussteigen muss. Der Weg ist mir einigermaßen bekannt, aber als ich den Bus verlasse, weiß ich nicht einmal, ob ich nach links oder nach rechts gehen muss. Ich irre ein bisschen herum und erblicke dann die neuen Häuser. Unser Name ist schon an der Klingel angebracht. Wohnung Nummer 26. »Was machst du denn hier?« Mama ist mehr als überrascht. »Ich bin da«, sage ich. – »Ja, das sehe ich«, sagt sie, »es ist mir nicht entgangen, dass du da bist, aber du solltest doch noch eine Woche im Wohnheim bleiben.« – »Ich kann da nicht mehr zurück«, sage ich ruhig. – »Ich weiß, dass du so schnell wie möglich hier sein willst, aber unsere Sachen sind noch nicht angekommen. Wir müssen uns doch erst einmal einrichten.« – »Ich kann nicht mehr zurück«, wiederhole ich, um es ganz klar zu machen. – »Wie meinst du das, du kannst nicht mehr zurück?« – »Ich habe mich abgemeldet.« – »Du hast dich abgemeldet? Und jetzt? Was willst du jetzt machen?«, fragt sie, als wäre es nicht sowieso klar. – »Na, ich will hier sein«, sage ich und lächle. – »Ich bringe dich um!«. Mama entspannt sich allmählich, und ich spüre, dass nun der Moment gekommen ist, meine Mütze abzunehmen. »Um Gottes willen«, ruft sie, »was hast du denn gemacht!« – »Ich habe mir bisschen die Haare gefärbt«, sage ich, »steht mir doch, oder?«, frage ich schnell, sie abzulenken ist die einzige Taktik, die mir bleibt, denn sie hat jedes Recht, mir den Kopf abzureißen. – »Um Gottes willen, noch greller ging es wohl nicht, oder? Du hättest mich wenigstens vorwarnen sollen, ich weiß nicht, was ich sagen soll …« Dann ertönt an der Tür das uns bis dahin unbekannte Geräusch einer Klingel. Unsere sechs Stühle und der neue Tisch werden geliefert. Ich bin gerettet. Das ist der schönste Moment meines neuen Lebens.
*
»Verdammte Scheiße, ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen«, sagt meine Mama zu Željkas Mama. Sie telefonieren. Die andere antwortet offenbar, dass sie letzte Nacht eine ganze Packung Zigaretten geraucht hat. Mama wird gefragt, was sie macht. Sie sagt: »Ich streiche die Wände.« So ungefähr hören sich alle ihre Gespräche an. Mein Bruder verlässt für gewöhnlich gegen zwei Uhr nachmittags sein Zimmer, sagt nichts, und wenn er dann etwas sagt, heißt es immer, er würde von hier fortgehen, er würde nach Vukovar zurückkehren und dort leben. Er kann Mama, so wie sie jetzt ist, nicht mehr leiden, weder sie noch mich, weil ich ihr angeblich immer ähnlicher werde.
In letzter Zeit sind wir oft in Vukovar gewesen, weil die Identifikationen begonnen haben. Jedes Wochenende wird einer, den wir kannten, zu Grabe getragen. Unser Vater ist noch nicht an die Reihe gekommen, und es sieht ganz so aus, als würde dies auch nie geschehen. Nachts stehe ich auf, ich kann oft nicht schlafen. Auch ich möchte von hier fortgehen, so weit weg wie nur möglich. An einen anderen Ort, an dem ich nicht das Gefühl habe, ich würde wahnsinnig werden. Ich bin mir sicher, dass ich eine Krankheit habe. Manchmal klopft mein Herz ganz schnell, meine Hände schlafen ein, manchmal habe ich Schmerzen beim Einatmen. Vielleicht bin ich auch nicht krank, vielleicht wird nur etwas passieren. Ich weiß nicht, was, vielleicht wird Mama Krebs bekommen. Neuerdings hat jeder Krebs. Vielleicht kommt mein Bruder bei einem Unfall um, und
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