Hotel Nirgendwo - Roman
ganzen Vormittag. Um neun Uhr bin ich mit Frühstück und Ankleiden fertig. Dann gehe ich in das Lernzimmer, und nachdem ich den Songtext von Like a Rolling Stone in mein Tagebuch notiert habe, fange ich mit dem Büffeln an. Mittendrin höre ich plötzlich, dass mein Name durch die Lautsprecher schallt, ein Telefonanruf für mich. Ich kann mir nicht vorstellen, wer das sein könnte. Mama hatte ich gestern gesehen, meinen Bruder vorgestern, aber wer es auch immer war, es war ein willkommener Grund für eine Pause. Ich gehe zur Pforte hinunter, und als ich mir das Telefon ans Ohr halte, höre ich nur die Hälfte des Satzes: »… haben Wohnung.« – »Wie bitte?«, sage ich in den Hörer hinein, während ich langsam anfange, Mamas Worte zu verstehen, aber noch kann ich sie nicht richtig begreifen, kann den Satz, auf den ich fast mein halbes Leben warte, nicht vervollständigen. »Wir haben eine Wohnung bekommen!« Wir haben eine Wohnung bekommen , hallt es in meinem Kopf nach. Noch einmal. Wir haben eine Wohnung bekommen . Ich bin mir nicht sicher, ob ich das laut aussprechen darf. Es gibt zwei Sätze, zwei Zaubersätze, die so bekannt klingen, weil du sie im stillen immerzu wiederholst. Und doch weißt du nicht, wie sie eigentlich laut ausgesprochen klingen, denn du hast sie bisher nie gehört und auch nie selbst laut gesagt.
Der erste Satz lautet: Papa ist am Leben.
Der zweite: Wir haben eine Wohnung bekommen.
Ich müsste jetzt schreien, so ein Moment ist das, aber ich schaffe es gerade einmal, die Kraft für ein dünnes Stimmchen aufzubringen, das ängstlich nach den Details fragt. Es gelingt mir, mich zusammenzureißen, und ich kann mich noch an alles erinnern: Die Wohnung ist außerhalb von Zagreb, aber stadtnah, es ist eine Dreizimmerwohnung in einem neuen Gebäude. Wir können in zwei Wochen einziehen. Aber wir müssen natürlich vorher Möbel kaufen, damit wir irgendwo schlafen können. Morgen gehen wir uns die Wohnung ansehen, morgen ist Samstag, es wird ein schöner Tag, heute gehen wir die Schlüssel abholen. Es ist tatsächlich passiert, es ist wahr, es ist wahr, ich sage es euch. Bald schon ist das Mädchen, das ich bin, nur noch eine ehemalige Heimbewohnerin. Ich streife meinen Trainingsanzug ab und ziehe mich für den Unterricht an, ich betrachte mich im Spiegel, ich kann es kaum erwarten, dass der heutige Tag vorbeigeht. Morgen fängt das neue Leben an. Erst wenn ich es sehe, werde ich daran glauben.
*
Wir fahren lange. Es kommt mir vor, als hätten wir die Stadt längst hinter uns gelassen. Aus dem Autofenster sehe ich nur Häuser, als wären wir in einem Dorf, eines neben dem anderen, mit Zäunen und Gärten. Hochhäuser sind nirgendwo zu sehen, und ich beginne schon zu zweifeln, dass wir hier richtig sind, doch dann sehe ich in der Ferne die roten Dächer von Neubauten, die höher sind als die kleinen Dorfhäuser. Das wird es sein. So schöne Hochhäuser habe ich schon lange nicht mehr gesehen, sie sehen modern aus, man hat sie grün angemalt, sie sind ungewöhnlich sauber und unglaublich schön, wie aus einem Zeichentrickfilm. Im Auto zähle ich die Stockwerke, unsere Wohnung ist auf der vierten Etage. Es gibt sogar einen Aufzug. Wir betreten das Haus. Ich habe das Gefühl, dass Mamas Hände zittern, während sie in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln sucht. Am Bund befinden sich zwei Schlüssel, einer für das Tor, der andere für die Wohnungstür. Sie schiebt zuerst den falschen Schlüssel in das Schloss, er lässt sich nicht umdrehen. Mein Bruder sagt: »Es ist der andere, nimm den anderen Schlüssel!« Dann reißt er ihr fast den Schlüsselbund aus der Hand und versucht es selbst mit dem zweiten. Aber der andere passt nicht einmal ansatzweise. Wir stehen vor der Tür. Sehen uns an. Niemand von uns sagt ein Wort. »Vielleicht ist es eine andere Wohnung«, sage ich schließlich. – »Hier steht doch achtundzwanzig«, fahren die beiden mich an. Also werden wir hier wohl weiter herumstehen. Im Gebäude ist noch niemand, keiner der Mieter ist eingezogen. Wohl oder übel werden wir gehen müssen. Wir können doch nicht wieder das Schloss aufbrechen, das wäre bescheuert. Schweigend gehen wir zurück zum Lift, wir steigen aus, wissen nicht, wohin und an wen wir uns wenden sollen. Vor dem Gebäude sind lediglich die Stimmen von den Handwerkern zu hören, sie kommen aus den Blechbaracken. Mein Bruder macht sich auf den Weg in ihre Richtung, doch Mama hält ihn zurück: »Wo
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