Hotel Nirgendwo - Roman
nur die letzten beiden Seiten gelesen. Auf die eine hatte er hastig an die fünfzig Mal das Wort Vukowar geschrieben und auf der anderen stand: »Gott, ich bitte dich, mach dass mein Papa endlich zurückkommt.« Am Ende stand noch: »Ich habe schon zwei Monate nichts mehr in mein Tagebuch geschrieben, das sagt alles über meine armselige Existenz aus.« Damals habe ich nicht verstanden, was das bedeutete, aber inzwischen nutze ich jede Gelegenheit, mich meiner armseligen Existenz zu vergewissern, indem ich mich meinem Tagebuch zuwende.
*
Eine der Streberinnen wird das sicher wissen. Ich habe offenbar den Zettel verloren, auf dem draufstand, wann die Elternsprechstunde beginnt. So wie ich diese Notiz verloren habe, habe ich auch die Tatsache verdrängt, dass es irgendwann so weit sein und man mich mit meinen schlechten Noten konfrontieren würde, mit meinen unentschuldigten Abwesenheiten, auch mit den entschuldigten, denn es waren weiß Gott nicht wenige. – Ich drehe mich zu meiner Klassenkameradin um. »Hey, sag mal, wann ist die Elternsprechstunde?« Sie hat einen Notendurchschnitt von 1,0 und will bei einer Zagreber Agentur Modell werden. Ja, könnte man sich fragen, Modell für was eigentlich, vielleicht für Handcreme, denn ihr Gesicht sieht nicht wirklich besonders gut aus. »Dienstags nach der zweiten Stunde«, sagt sie, »und mittwochs nach der fünften, immer wenn wir Nachmittagsunterricht haben, so wie jetzt. Vormittags jeden Dienstag nach der letzten Stunde.« Nach diesem Redeschwall hält sie inne und sagt nichts mehr. »Danke«, sage ich, weil ich nicht unfreundlich erscheinen will. Ich hatte Mama gesagt, dass sie gegen sechs kommen soll, und das war ungefähr jetzt, sie musste also noch eine ganze Stunde warten. Vielleicht hatte sie Glück und lief meiner Klassenlehrerin zufällig über den Weg. Ich höre das Läuten, das die Pause ankündigt, aber ich entscheide mich, im Klassenraum sitzen zu bleiben, ich könnte Mama auf dem Flur begegnen, und ich habe nicht die Kraft, ihr vor der Hinrichtung in die Augen zu schauen. Die Pause scheint überhaupt nicht mehr enden zu wollen, und als endlich meine Kunstlehrerin den Raum betritt, atme ich dankbar durch, ich habe noch fünfundvierzig Minuten zu leben, und diese will ich gut nutzen. Bla, bla, bla, Taufkapelle hier, Taufkapelle da, das Thema ist nicht besonders, und so fällt es mir noch schwerer, mich zu konzentrieren. Vielleicht erbarmt sich Gott meiner, denke ich, und schickt mir ein Zeichen, auch wenn ich nicht weiß, was für ein Zeichen das sein könnte. Jemand klopft an die Tür unseres Klassenzimmers, und das Mädchen, das Schuldienst hat, kommt herein. Vielleicht läuft das Ganze auf eine Bombendrohung hinaus, denke ich, vielleicht brennt es, vielleicht überfallen uns die Serben wieder. Ich hätte mich über jede dieser Varianten gefreut. Am wenigsten aber über diejenige, die dann Wirklichkeit wurde. Mein Name wurde von einem Zettel abgelesen, und es hieß, ich müsse ins Lehrerzimmer kommen. Etwas anderes war auch nicht zu erwarten. Die Klasse tuschelt, flüstert, es werden verschiedene Theorien aufgestellt.
Die beiden stehen gebeugt über dem Klassenbuch, in dem alles vermerkt ist. Mamas Gesicht ist wie versteinert. »Was ist das hier?«, fragt sie leise. »Was ist mit den Zweiern passiert? Was sind das hier für Noten?« Die Fragen mehren sich, eine folgt auf die andere, man könnte sie als rhetorisch bezeichnen, doch ich weiß, dass ich bald jede einzelne beantworten muss. Das Schlimmste ist, daran hatte ich bisher gar nicht gedacht, dass das alles vor den Augen dieses Monstrums von einer Lehrerin stattfinden wird. Sie hat ihren Kopf zur Seite geneigt und wartet auf meine Erklärungen. Ich schweige. »Warum sagst du nichts?«, fragt Mama traurig. Damit kriegt sie mich immer, sogar einen Wutanfall könnte ich besser ertragen als das hier. Ich schweige weiterhin. »Wissen Sie was«, sagt die Monsterlehrerin, »ich weiß, das ist nicht leicht, Vukovar und das alles, aber die anderen haben es auch nicht einfacher. Der Mann meiner Freundin wurde in der Maksimirska von der Straßenbahn überfahren, aber ihr Sohn hat nur Einsen, und das auf dem berühmten MIOC-Gymnasium. Das ist doch was?« Ich schaue Mama an, und mir scheint es, dass ihr langsam etwas dämmert. »Was meinen Sie mit Vukovar und das alles?« Sie spricht die Worte langsam aus und wendet sich dabei der Klassenlehrerin zu. »Ich meine den Krieg, all das, nicht wahr? Ich
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